"Meine Kinder werden frei von Abhängigkeit und Angst aufwachsen", blickt Joana Adesuwa Reiterer in eine zuversichtliche Zukunft.

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Frauen und Kinder werden ausgestoßen, gefoltert und verbrannt, weil man annimmt, dass sie Hexen sind. Was sich wie ein historischer Bericht aus dem europäischen Mittelalter anhört, passiert täglich in Afrika. Alleine in Nigeria leben 5.000 Frauen und Kinder auf der Straße, vertrieben und als Hexe gebrandmarkt. Joana Adesuwa Reiterer war gerade einmal 16 Jahre alt, als sie ihr Vater verstieß. Sie soll ihn verhext haben und an seinem geschäftlichen Ruin Schuld sein.

Adesuwa Reiterer wurde von ihm zu Juju-PriesterInnen und Pfingstkirche-PastorInnen gebracht, die mit grotesken Ritualen die Hexenkräfte austreiben wollten. So musste die Frau sieben Tage ohne Essen und in ihrem Zimmer eingesperrt ausharren oder übel riechende Flüssigkeiten trinken. Sie flüchtete. Zuerst nach Benin und dann mit ihrem ersten Mann Tony nach Österreich. Doch auch dieser machte bald ihre Hexenkräfte für seinen Misserfolg verantwortlich. Gemeinsam flogen sie daher zurück nach Nigeria, wo sich Adesuwa Reiterer einem noch intensiveren siebentägigen Ritual unterziehen musste, wobei sie ständig unter Drogen gesetzt wurde.

Reise in die Vergangenheit

Es folgte die Trennung und ein Neuanfang mit ihrem jetztigen Mann in Wien, wo sie auch den Verein "EXIT" gründete, der Opfern von Menschenhandel hilft. 2010 reiste sie mit einem Filmteam zurück nach Nigeria, um sich für eine Dokumentation auf Spurensuche zu begeben. Sie traf ihren Vater wieder, der sie abermals als Hexe beschimpfte und lernte betroffene Frauen und Kinder kennen, die dasselbe Schicksal wie sie ereilte. In Hexendörfern, die gebrandmarkte Personen aufnehmen und schützen, bei einem Juju-Priester und in Pfingstkirchen erkannte sie, dass sie mit ihrem "Schicksal nicht alleine ist". Aus diesen Eindrücken entstand ihr Buch "Hexenkind".

derStandard.at: Sie schreiben in Ihrem Buch immer wieder von der Sehnsucht nach Afrika und vor allem Nigeria. Ist diese Sehnsucht auch nach Ihrer Recherchereise noch vorhanden?

Joana Adesuwa Reiterer: Ja, das ist sie. Aber mittlerweile ist das schon geregelter. Ich war im November 2010 in Nigeria und auch heuer im Juni. Meine Brüder, Schwester und meine Mutter vermisse ich aber sehr - und das Essen. In Wien bekommt man keine guten afrikanischen Speisen.

derStandard.at: In einem Kapitel erwähnen Sie, dass in ländlichen Gebieten bis zu 90 Prozent aller gerichtlichen Prozesse Hexenprozesse sind. Woher haben Sie die Zahlen? Hat Sie das überrascht?

Adesuwa Reiterer: Ich habe diesen Prozentsatz aus einem UNHCR-Report vom Jänner 2011 mit dem Titel "Breaking the spell: responding to witchcraft accusations against children" (dt. Den Zauber brechen: Auf die Hexenanschuldigungen gegen Kinder reagieren). Ich war natürlich auch von den Zahlen überrascht, aber vielmehr von der Tatsache, dass es gerichtliche Prozesse gegen angebliche Hexen gibt. Ich habe dann aber eine Al-Jazeera Reportage gesehen, in der das erklärt wurde. Nachdem es für die Beschuldigten keine Sozialeinrichtungen gibt, ist die einzige Möglichkeit, sie vor der Dorfgemeinschaft zu schützen, eine Gefängnisstrafe. Die Leute würden die angebliche Hexe sonst umbringen. Dabei kenne ich Strafrahmen von bis zu drei Jahren. Ich habe aber auch von Gefängniswärtern gehört, die nicht an Magie und Zauberei glauben und diese Frauen dann mit nach Hause genommen haben, um sie zu schützen.

derStandard.at: Haben Sie während Ihrer Recherchereise überlegt, in Afrika vor Ort zu helfen?

Adesuwa Reiterer: Als das Treffen mit meinem Vater bevorstand, war mir überhaupt nicht klar, was ich machen soll. Also ob ich in Nigeria bleiben oder wieder zurück nach Österreich gehen soll. Nachdem ich aber die betroffenen Menschen getroffen und diese schlimmen Sachen gesehen habe, war mir klar, dass ich handeln muss. Deshalb habe ich das "Project Precious" ins Leben gerufen, das Aufklärungsarbeit in Afrika leisten soll. Derzeit sprechen wir auch mit Nollywood (der Filmindustrie in Nigeria, Anm. d. Red.), um eine Serie zu produzieren, die aufzeigt, dass diese Hexensache kompletter Unfug ist. Außerdem wollen wir Spenden für die Hexendörfer sammeln, in denen verstoßene Erwachsene und Kinder Zuflucht finden.

derStandard.at: Neben den ganzen schrecklichen Dingen, die Sie erlebt und gesehen haben, gab es auch schöne Erlebnisse während Ihrer Reise?

Adesuwa Reiterer: Das Schönste war eigentlich, diese Hexendörfer zu besuchen und zu sehen, dass es Menschen gibt, die den Betroffenen Schutz anbieten. Es war auch schön zu sehen, dass die Frauen, trotz ihrer Geschichte, noch solch eine Lebensfreude haben und dankbar sind zu leben. Die Einstellung zum Leben ist allgemein in Nigeria positiver als in Österreich. Bei uns regt man sich über verspätete Züge auf. In Nigeria freut man sich, dass man überlebt.

derStandard.at: Haben Sie damit gerechnet, dass das Schicksal der Hexenkinder und -frauen Sie mit Ihrer eigenen Geschichte so sehr konfrontiert?

Adesuwa Reiterer: Nein. Am Anfang der Reise hatte ich Angst, weil ich nicht wusste, ob es persönlich wird. Ich weiß auch nicht, wieso mich das Schicksal von Agnes (ein 17-jähriges Mädchen in einem Hexendorf, Anm. d. Red.) so sehr berührte, dass ich zusammengebrochen bin. Durch die Reise habe ich erst bemerkt, wie sehr es mich verletzt hat, dass mich mein eigener Vater auf die Straße gesetzt hat. Ich dachte mir immer wieder, dass ich jetzt auch in so einem Hexendorf leben würde, wäre ich in einer Dorfgemeinschaft aufgewachsen. Ich bin aber glücklich und dankbar für die Möglichkeiten die ich hatte und habe.

derStandard.at: Durch die Reise nach Nigeria wurden Sie auch mit den verschiedenen Foltermethoden konfrontiert, die Frauen und Kinder dazu bringen sollen, sich als Hexen zu bekennen. Waren Sie überrascht, dass es noch grausamere Mittel gibt als jene, die bei Ihnen eingesetzt wurden?

Adesuwa Reiterer: Es gab Zeiten, in denen ich meinem Vater dankbar war, dass es bei mir nicht so schlimm war. Ich war immerhin schon 16 Jahre alt, als er mich verstoßen hatte. Ich habe aber achtjährige Kinder getroffen, die nun auf der Straße leben müssen. Wenn ich daran denke, dass mein Sohn sechs Jahre alt ist, dann macht mich das sehr betroffen. Als ich von den Foltermethoden erfahren habe, traute ich mich nicht mehr wegen meines Schicksals zu leiden. Ich habe im Internet ein Video gesehen, in dem fünf Menschen in Nigeria bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Das sind Methoden wie aus dem Mittelalter in Europa. Ich bin entsetzt, zu welchen Dingen Menschen fähig sind.

derStandard.at: Haben Sie auch Menschen in Österreich kennengelernt, die in Afrika als Hexen bezeichnet wurden?

Adesuwa Reiterer: Ich hatte bei EXIT zwei Klientinnen, die solche Anschuldigungen in ihrer Vergangenheit erlebt haben. Sie konnten aber ganz gut damit umgehen. Ich glaube sie sind so glücklich, weil sie die Erlebnisse nie aufgearbeitet haben. Verdrängung kann im Moment helfen. Wenn man beginnt, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen, dann kann es sein, dass man zusammenbricht. Man wird verletzbar und schwach. Ich weiß, wovon ich spreche.

derStandard.at: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie Ihr Leben jetzt wäre, wenn Sie nie als Hexe bezeichnet worden wären?

Adesuwa Reiterer: Nein. Ich stelle mir aber oft vor, wie das Leben meiner beiden Kinder sein wird. Sie werden frei von Abhängigkeit und Angst aufwachsen. Ich habe mich nie getraut darüber nachzudenken, wie es wäre. Das hätte zu sehr wehgetan. Diese Anschuldigungen und ihre Folgen sind ein Teil meines Lebens. Das bin ich. (Bianca Blei, derStandard.at, 12.10.2011)