War es Mut oder Verzweiflung? Oder gar der Mut der Verzweiflung? In jedem Fall war es richtig. Mit seinem Befreiungsschlag hat Andreas Treichl das Notwendige getan: Der Generaldirektor hat die Risiken, auf denen die Erste Group Bank wie auf Zeitbomben sitzt, in Ziffern ausgedrückt und damit erstmals sichtbar und transparent gemacht. Die Bank-Bilanz, sonst ein beliebtes Instrument des Tarnens und Täuschens, auf einmal ein Hort der Ehrlichkeit - Glasnost am Graben (dem Sitz der Erste Bank).

Mit seinem Risiko-Strip hat Treichl Fehler eingestanden, den Aktionären die Dividende gestrichen und die Aktie auf Talfahrt geschickt. Ein Bankmanager als Geisterfahrer? Im Gegenteil. Mit seinem Kraftakt hat der Banker bewiesen, dass er weiß, auf welches Konto derzeit eingezahlt werden muss: Das Vertrauenskonto. Denn auf diesem ist das Minus noch viel größer als in den griechischen Staatskassen.

Und das hat fatale Folgen. Die europäischen Regierungen trauen den Griechen nicht, ob sie die notwendigen Sparmaßnahmen setzen. Wir trauen den Politikern nicht, die Krise wirklich in den Griff zu bekommen. Und die Banken trauen überhaupt niemand mehr, weder den Politikern (gibt es Unterstützung und wenn ja, wie lange?) noch den anderen Banken (auf welchen Risiken sitzen diese?) und schon gar nicht der Bevölkerung (die ihren latenten Frust jetzt bei Anti-Wallstreet-Demonstrationen herausschreit).

Die Beispiele zeigen, was die aktuelle Finanzkrise im Kern tatsächlich ist: Eine tiefgehende Vertrauenskrise. Und die bezieht sich keineswegs nur auf die Wirtschaft. Wir misstrauen unseren Partnerinnen, deshalb steigt die Zahl der Vaterschaftstests. Wir misstrauen der Kirche, deshalb erreicht die Zahl der Austritte immer neue Rekorde. Wir misstrauen der Finanzwelt, die von anonymen "Märkten" regiert wird, die weder ein Gesicht noch mit der Realität von Produktion und Verkauf irgendetwas zu tun haben.

Doch was hat unser Vertrauen so ausgewaschen wie einen Acker nach monatelangem Dauerregen? Die zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit des Lebens. Schlichter formuliert: Der Mensch kennt sich in der Welt nicht mehr aus, kann sie sich nicht mehr erklären. Alles wird immer komplizierter. Auf jedem Milchpackerl gibt es mehr als 20 Angaben über Inhaltsstoffe, Brennwerte, Gütesiegel, Herkunft, Hersteller und, und, und. Vor jedem Yoghurt-Regal stehen wir ratlos vor der Fülle des Angebotes - und greifen erleichtert zu dem Produkt, das wir immer schon gekauft haben, wobei wir die Beantwortung der Frage nach dem "ökologischen Fußabdruck" der Yoghurt vorsorglich auf den nächsten Einkauf verschieben.

Der Informations Overflow aus Medien und vor allem dem Internet macht alles noch komplizierter. Noch nie war es so schwierig, aus der Lawine von Informationen das wirklich Relevante herauszufiltern. Stets bleibt das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben.

Alles wird immer schneller. Mit der Beantwortung eines Briefes konnte man sich noch eine Woche Zeit lassen, eine Mail muss innerhalb weniger Stunden beantwortet werden. Alles wird immer globaler. Weil amerikanische Häuslbauer überschuldet sind, bekommen österreichische Unternehmen immer schwieriger Kredite. Weil die Griechen es mit den Finanzen nicht so genau nehmen, muss die Erste Bank den Wert ihrer rumänischen Tochter um 700 Millionen Euro abwerten. Viele Arbeitsplätze in Europa hängen stärker von der Entwicklung der chinesischen Währung Renminbi und den Sozialgesetzen in Indien ab als von der eigenen Leistung. Wer kann da noch mitkommen, wer kann das noch verstehen?

Die Börsenkurse hatten sich in den vergangenen eineinhalb Jahren wieder deutlich erholt, das Vertrauen der Menschen nicht. Es ist schwerer zurückgewinnen. Erste Bank-Chef Treichl hat daher einen wichtigen Schritt gesetzt: Karten auf den Tisch; nicht mehr Probleme leugnen, von denen viele ohnehin ahnen, das es sie gibt. Dabei wird auch politisches Kalkül gewesen sein. Sich in diesen Tagen als Bank möglichst arm zu rechnen, ist angesichts der politischen Diskussion und der kritischen Haltung der Bevölkerung geschickt. Falsch ist es trotzdem nicht. Im Gegenteil. Ein solcher Befreiungsschlag wäre auch für die Griechenland-Krise hilfreich. Statt immer neue Rettungspakete zu schnüren und zu beteuern, dieses sei aber wirklich das letzte, lieber einen harten Schulden-Schnitt, also eine Treichl-Bilanz für Athen. Denn ohne Transparenz und Glaubwürdigkeit kann es kein neues Vertrauen geben.

Ein weiterer Baustein für die Zurückgewinnung von Vertrauen ist persönliches Commitment. Um vor 30 Jahren den angeschlagenen US-Autobauer Chrysler wieder in Fahrt zu bringen, bot Sanierer Lee Iacocca den Kunden an, ihr neu gekauftes Fahrzeug binnen 30 Tagen zurückzubringen und den Kaufpreis erstattet zu bekommen, ohne Angabe von Gründen. Die Kunden honorierten Iacoccas Vertrauensbeweis: Nur zwei von 1.000 Käufern holten sich ihr Geld zurück. - In der aktuellen Situation hätte ein Vorschlag von Prof. Thomas Rudolph von der Uni St. Gallen einen ähnlichen Effekt: Er regt an, dass Bankmanager jedes Quartal einige Prozent ihres Einkommens in Finanzprodukte aus dem eigenen Haus investieren müssen - Abzocker-Produkte, die keiner versteht und bei denen nur die Bank verdient, würde es dann wohl nicht lange geben. Das wäre doch eine Idee für den nächsten Auftritt von Andreas Treichl. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.10.2011)