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Sozialphilosoph Jürgen Habermas

Foto: REUTERS/Ralph Orlowski
Die kerneuropäische Interessengemeinschaft zwischen Deutschland und Frankreich zeitigt nicht nur umstrittene Verfassungsvorschläge im EU-Konvent. Sie schmiedet Koalitionen, die man noch vor kurzem für undenkbar gehalten hätte.

So zeichneten am vergangenen Wochenende die Philosophen Jürgen Habermas und Jacques Derrida gemeinsam einen Essay in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung", der zwar nach Ton und Gehalt aus der Werkstätte Habermas' kam, jedoch die Verallgemeinerung ideengeschichtlicher Prämissen veranschaulichte.


Unter dem Titel "Unsere Erneuerung - Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas" schickt sich das miteinander ausgesöhnte Philosophenpaar an, dem "alten" Europa dessen (neue) historische Sendung als weltgesellschaftliche Notwendigkeit vor Augen zu führen. Die Pointe der Ausführungen, die sich unverhohlen gegen den "unilateralen" Machtanspruch der USA kehren, liegt dabei in der Erfindung eines neuen - oder wenigstens aufgefrischten identitätspolitischen Konzepts.


Denn selbst Habermas muss in Rechnung stellen, dass die "funktionalen Imperative" eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsgebietes nicht länger ausreichen, um die Mitglieder aller europäischen Staatsvölker zu freudig bewegten Kontinentalbürgern zu machen. Habermas' identitätspolitischer Ehrgeiz zielt auf eine höhere Abstraktionsleistung ab - und hierin gibt er sich als geradezu rührender Idealist zu erkennen.


Zum einen soll gerade die weltweit verbindliche Geltung europäischer Errungenschaften - wie zum Beispiel die Unverbrüchlichkeit der Menschenrechte - die Besonderheit Europas verbürgen. Zum anderen zeichnet Habermas ein sehr scharf umrissenes Bild unserer Eigenheiten, die ihre Entstehung bekanntlich vor allem blutigen Kriegen verdanken.


Habermas listet nun alle die Beispiele europäischer Gesittung auf, die modellhaft seien: die Kommunikation von Unterschieden; die Institutionalisierung von Gegensätzen, die solcherart erst erträglich gemacht werden; die Stabilisierung von Spannungen - und der geradezu religiöse Glaube an die Sicherheitsgarantien des Wohlfahrtsstaates. Nicht zu vergessen die (freilich unterschiedlich ausgeprägte) Trennung von Kirche und Staat.


Habermas: "Der Wunsch nach einer multilateralen und rechtlich geregelten internationalen Ordnung verbindet sich mit der Hoffnung auf eine effektive Weltinnenpolitik im Rahmen reformierter Vereinter Nationen." - Die kantisch geprägte Intelligenz des Philosophen verlangt nicht weniger als die "Konstruktion" einer europäischen Identität, in der sich ein klarer politisch-ethischer Wille manifestiere: basierend auf der Überwindung des Absolutismus, von Klassengegensätzen, auf der Wachrufung moralischer Normen, auf dem notwendigen Gedenken an den Holocaust.

Der Glaube an die reflexive Distanz zur eigenen Identität, die ihr Bestes so erst hervorbringt - er ist das stärkste Stück dieser höchst bedenkenwerten Epistel. Fragen zu American Politics and the Unity of Europe beantwortet übrigens am 11. Juni ein Abend im Wiener Haus der Industrie (ab 18 Uhr): Die Diskussion leitet Krzysztof Michalski vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) . (DER STANDARD, Printausgabe, 3.6.2003)