Denken und diskutieren - für eine bessere Welt, gegen die Macht der Wall Street.

Foto: Khorsand

Dazwischen muss auch geruht werden.

Foto: Khorsand

Marsha Spencer sitzt im Park und strickt für eine bessere Welt.

Foto: Khorsand

Robert Segal gehört zu den Veteranen der Bewegung.

Foto: Khorsand

Identitäfsfindung in einer Bewegung ohne Führer, ohne Forderungen, ohne Manifest.

Foto: Khorsand

Manchen wird nachgesagt, sie kämen nur wegen des gratis Essens und der Party.

Foto: Khorsand

New York - "Mic Check! Mic Check!" brüllt ein junger Mann durch die Menge verschlafener Demonstranten. Es ist neun Uhr morgens und er hat eine Ankündigung zu machen. Binnen Sekunden schälen sich Männer und Frauen aus ihren Schlafsäcken und versammeln sich um den blonden Hünen in gelber Latzhose und Rauschbart. Sie wissen um die Rituale, die ihre Gemeinschaft hier im Zuccotti Park, in Lower Manhattan, zusammenschweißen. Als menschliche Lautsprecher echoen sie jedes Wort, das er von sich gibt: "Vertreter aller Arbeitsgruppen treffen sich jetzt beim Parkeingang Broadway!" Wer etwas zu sagen hat, bedient sich dieses kollektiven Schreiprozederes. Willkommen in der Republic of Zuccotti Park.

Wo bis vor wenigen Wochen Bauarbeiter und Anzugträger bei Hotdog und Gyros ihre Mittagspause verbrachten, protestieren Hunderte Amerikaner Tag und Nacht gegen die Macht der Wall Street - und versuchen einen utopischen Gegenentwurf zur amerikanischen Ellbogengesellschaft zu schaffen. Hier gibt es keine Klassen, keine Hierarchien und keiner fragt nach der Kreditwürdigkeit der Beteiligten. Junge Kunststudenten schlafen neben Frisörinnen und Kriegsveteranen, vereint in ihrem Unmut gegen das System.

"Eine Familie"

"Wir sind wie eine Familie", sagt Marsha Spencer. Seit zehn Tagen sitzt die 56-jährige Großmutter im Park und strickt für eine bessere Welt. Gelegentlich drückt ihr ein Jungrevoluzzer einen Schmatzer auf die Wange und bedankt sich für ihren Einsatz. Noch nie zuvor hat sie an einem Protest teilgenommen. Doch nun ist sie unglaublich wütend. Es sind die Reichen, deren millionenschwere Einkommen nicht versteuert werden, weil ihre Steuerberater die Schlupflöcher im System kennen. Es sind die Banken, denen sie als Steuerzahlerin aus der Patsche geholfen hat und die ihren Mitbürgern keine Kredite mehr geben. Es sind die Studiengebühren, die ihren Enkeln ein Leben lang nachhängen werden, sobald sie alt genug sind aufs College zu gehen.

Bis zu acht Stunden täglich verbringt Spencer auf ihrem Campingstuhl und versorgt die Demonstranten mit Hauben, Schals und Handschuhen. Stolz verkündet sie ihren Nom de guerre: "die Strickerin." Vor sechs Monaten hat die professionelle Schneiderin ihren Job verloren und lebt heute von ihren Ersparnissen. "Es war hart, das erste Mal für Essensmarken anzustehen", gesteht sie. Ihre Kinder halten sie für verrückt, aber "es ist meine patriotische Pflicht als Amerikanerin hier zu sein. Wenn etwas falsch rennt, dann liegt es an dir, es zu ändern", sagt sie.

Anfangs belächelt als Studentenprotest gelangweilter Wohlstandskinder, trommelwütiger Hippies und Anarchisten, wird "Occupy Wall Street" nun als soziale Bewegung angesehen, unterstützt von Gewerkschaften, Politikern und Prominenten. Es ist eine Bewegung ohne Führer, ohne Forderungen, ohne Manifest - für die nationalen Medien ein schier chaotisches Phänomen, anfangs unvermittelbar für ihr Publikum. Zugegeben, der Zuccotti Park gleicht mehr einem riesigen Obdachlosenlager inmitten von Wolkenkratzern als der Utopica Americana. Doch wer hier umher wandert, wird überrascht sein vom Organisationsgrad der Demonstranten. Innerhalb eines Monats haben die Besetzer ein kleines Revolutionsdorf geschaffen. Mit eigenem Medienzentrum, exotischer Suppenküche und Versorgungsstation, wo man vom Schlafsack bis zu Vitamintabletten alles erhält, empfangen sie Neuankömmlinge in der Gemeinschaft. Sanitäter versorgen heisere Demonstranten mit lindernden Kräutertinkturen und Psychiater kümmern sich um die Entzugserscheinungen drogensüchtiger Männer und Frauen. Anwälte beraten Aktivisten um ihre Rechte und Coachs dirigieren Jugendliche zu einer der rund 50 Arbeitsgruppen, um ihr Potenzial in der Bewegung zu entfalten, oder in die "Bibliothek", um sich vorerst einmal zu informieren. Des Nachts patrouillieren "Deeskalationsteams" durch den Park, um Streitereien zu schlichten und Spezialeinheiten schaffen Sicherheitszonen, um Frauen vor sexuellen Übergriffen zu beschützen.

"Hier findet der Testlauf für eine andere, eine bessere Gesellschaft statt", sagt Drew Hornbein. Der 24-jährige Graphikdesigner hat vor ein paar Wochen seinen Job gekündigt, um Vollzeit an dieser besseren Gesellschaft mitzuwerken und weil er fühlt, dass er "Teil einer großen Sache" sei, größer als er selbst. Seit neun Uhr morgens sitzt er in Meetings. Als Mitglied der Arbeitsgruppe "Internet" sind seine Fähigkeiten gefragt. Zurzeit arbeitet er mit seinen Kollegen an der Webseite der Besetzer, um die zahlreichen Arbeitsgruppen besser zu vernetzen. Um sieben Uhr abends wird er die Fortschritte der Generalversammlung vorstellen.

Die Generalversammlung entspricht dem Parlament der Bewegung. Hier werden allabendlich Entscheidungen getroffen, jeder kann teilnehmen, beitragen und blockieren. Basisdemokratie in Reinkultur also.

"Gratis Essen und Party"

"Viele haben hier nichts zu suchen. Die kommen nur wegen des gratis Essens und der Party", grummelt Robert Segal. Der 47-jährige gehört zu den Veteranen der Bewegung. Seit dem ersten Tag campiert der arbeitslose Weinverkäufer zwischen Falafelstand und Suppenküche. Als Mitglied des "Stadtplanungskomitees" arbeitet er daran, dass sich die Leute an gewisse Regeln halten. "Ich bin nicht besonders beliebt hier", sagt er bevor er eine Gruppe Jugendlicher bittet, die Blumenbeete nicht als Abfalleimer zu benutzen. Er weiß um die Abläufe und Dynamiken im Park, darum, dass es selbst hier in der scheinbar hierarchiefreien Gemeinschaft durchaus eine Elite gibt. "Das sind die Medienleute mit ihren Laptops. Sie sind die einzigen, denen die Küche das Essen bringt und die sich nicht anstellen müssen", erzählt er. Sie haben ihre eigenen Sicherheitsleute, die kontrollieren wer Zugang zum Medienbereich am Osteingang des Parks hat - und sie verfügen über all die Informationen.

Mit der argumentationsscheuen Kumbaya-habt-euch-lieb-Mentalität einiger Demonstranten scheint Segal wenig anfangen zu können. "Es geht darum, wie man in einer Gemeinschaft miteinander umgeht ohne sich die Köpfe einzuschlagen", erklärt er trocken beim morgendlichen Arbeitsgruppentreffen. Es gleicht einer Kabinettssitzung verschiedener Regierungsmitglieder. Robert Segal könnte man dem Innenministerium zurechnen. Mit Gleichgesinnten diskutiert er über die Sicherheit im Park, wie sie die Besetzer friedlich davon überzeugen können, sich an die Ruhezeiten zu halten, das Alkohol- und Drogenverbot zu respektieren und sich gegenseitig nicht in die Schlafsäcke zu pinkeln. Einige in der Gruppe schütteln entnervt den Kopf. Einen Ministaat zu verwalten ist schwieriger als angenommen. Das hat nichts mehr mit Trommelzirkeln und Meditationsübungen für eine bessere Welt zu tun. Hier geht es um knallharte Politik, Utopie hin oder her. "Im Prinzip machen wir das, was Regierungen seit Anbeginn der Zeit versuchen", sagt ein junger Mann in der Gruppe nüchtern. Er überlegt kurz und lächelt müde: "Wir versuchen es nur ein bisschen schlauer." (Solmaz Khorsand aus New York, derStandard.at, 13.10.2011)