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Die Patienten sollen sich nicht einfach irgendwelche Pop-Songs, Konzerte oder Opern anhören, sondern Musik, die ihrem Tinnitusproblem angepasst wurde.

Foto: AP/Steven Senne

 

Ludwig van Beethoven litt an Tinnitus, Charles Darwin und Jean-Jacques Rousseau ebenso. Silvester Stallone (Rocky) wird von Ohrgeräuschen geplagt, auch Phil Collins und Barbra Streisand. Ob es im Ohr rauscht, piept, brummt, pfeift oder knackt: Tinnitus ist ein Volksleiden, allein in Österreich sind rund 200.000 Menschen daran erkrankt.

Ein Hörsturz kann chronische Ohrgeräusche auslösen, aber auch starker Lärm, eine Infektion, Durchblutungsstörungen, Diabetes oder ein Schleudertrauma. Etwa ein Drittel der Betroffenen ist im Alltag schwer beeinträchtigt. "Manche Patienten beschäftigen sich nur noch mit ihrem Ohrgeräusch und versinken in schweren Depressionen", sagt Tinnitus-Forscher Christo Pantev von der Universität Münster. Als Therapie wird von Kortison über Akupunktur und Laserbehandlungen bis zu autogenem Training und Botox-Spritzen fast alles angepriesen. Eine tatsächliche heilsame Wirkung ist aber in den meisten Fällen nicht belegt.

"Manche Patienten ließen sich aus Verzweiflung den Hörnerv durchtrennen", erzählt Pantev. Doch selbst das nützte nichts: Die Ohrgeräusche blieben. "Tinnitus wird zwar im Ohr wahrgenommen", erklärt der Forscher, "er entsteht aber, wie wir heute wissen, im Gehirn." Genauer gesagt im auditorischen Kortex, einer Region der Großhirnrinde, in der Tonsignale verarbeitet - oder eben selbst erzeugt werden.

An dieser Stelle im Gehirn setzt die neue Therapiemethode an, von Neurowissenschafter Pantev an: Musik hören. Die Patienten sollen sich allerdings nicht einfach irgendwelche Pop-Songs, Konzerte oder Opern anhören, sondern Musik, die ihrem Tinnitusproblem angepasst wurde.

Chaos in Nervenzellen

"Bei Menschen, die unter Ohrgeräuschen leiden, sind zahlreiche Nervenzellen im auditorischen Kortex außer Rand und Band", holt der Forscher aus. Er vermutet, dass Tinnitus auf ähnliche Weise entsteht, wie Phantomschmerzen nach der Amputation einer Gliedmaße. Tinnituspatienten können aufgrund einer Hörstörung bestimmte Tonfrequenzen nicht mehr wahrnehmen, sagt er: Die dafür zuständigen Nervenzellen wurden von den eingehenden akustischen Impulsen abgeschnitten.

"Das Gehirn ist jedoch plastisch", sagt Pantev, "es verändert sich ständig und versucht, Störungen zu kompensieren." Die beeinträchtigten Nervenzellen knüpfen daher unzählige neue Verbindungen zu Nachbarzellen, die für andere Frequenzbereiche zuständig sind. "Grundsätzlich ist das positiv", sagt Pantev, "aber manche der neuen Zusammenschlüsse haben ungünstige Nebenwirkungen." In vielen Fällen wir der Erregungspegel im auditiven Kortex immer weiter hochgefahren, und hyperaktive Nervenzellen produzieren schließlich ein "Phantomgeräusch".

Durch individuell angepasste Musik, so hoffen Pantev und sein Team, lassen sich die überaktivierten Nervenzellen aber beruhigen und ungünstige Verknüpfungen zwischen Neuronen wieder auflösen. "Wir benötigen dafür ein hohes Aufmerksamkeitsniveau", sagt Pantev. "Deshalb nutzen wir Klänge, die die Patienten als angenehm empfinden."

Der Trick der Forscher: Sie arbeiten mit Klängen, in denen die jeweilige Tinnitus-Frequenz der Patienten ausgespart ist. Sie regen also die umliegenden Nervenzellen an, damit diese wiederum auf die Tinnitus-Neuronen einwirken. Zu diesem Zweck filterten sie im Bereich der Tinnitus-Frequenz der Patienten das Klangspektrum einer Oktave aus den Musikstücken heraus. "Die Musik klingt danach ein wenig stumpf, wie früher, in den 70er-Jahren, aus einem Mono-Kassettenrekorder", lacht Pantev. Patienten, die die "gefilterte" Musik regelmäßig hören, berichten von Verbesserungen.

Im Rahmen einer Pilotstudie, die unlängst im US-Wissenschaftsmagazin PNAS publiziert wurde, haben die Neurowissenschafter aus Münster den neuen Therapieansatz nun zwölf Monate getestet - aus 23 Tinnitus-Patienten bildeten die Forscher drei Gruppen: Gruppe A hörte ihre Lieblingsmusik unverändert, bei Gruppe B wurde ein zufälliger Frequenzbereich gelöscht, und bei Gruppe C derjenige Frequenzbereich, der dem individuellen Tinnitus-Geräusch entspricht.

Das Ergebnis: Aus Gruppe C berichteten fast alle Versuchspersonen von Verbesserungen. Im Durchschnitt war der Tinnitus um ein Viertel leiser. Die Probanden gaben darüber hinaus an, dass sie das Ohrgeräusch nun als "weniger lästig" empfänden als zuvor.

Studienergebnis

Pantev und seine Team überprüfte die Aussagen mithilfe der Magnetoenzephalographie (MEG), einer Technologie zur Sichtbarmachung der Hirnaktivität: Tatsächlich war die Erregung der für die Tinnitus-Frequenz zuständigen Neuronen bei den Probanden aus Gruppe B deutlich zurückgegangen. Bei manchen Patienten aus Gruppe A hingegen feuerten Nervenzellen noch häufiger als vor Beginn des Experiments. Es scheint also in der Tat möglich, die Aktivität im auditiven Kortex durch Musik zu beeinflussen.

"In dieser Studie waren noch zu wenige Probanden, um verallgemeinerbare Aussagen treffen zu können", sagt Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. "Aber ich halte den Ansatz aus Münster für einen der interessantesten, die in den letzten Jahren publiziert wurden." Auch an der Universität Zürich konnte nachgewiesen werden, dass regelmäßiges, konzentriertes Musikhören das Gehirn verändert, betont Jäncke. Wieso also nicht bei Tinnitus?

In einer weiteren Pilotstudie in Münster mussten 20 Patienten die "gefilterte" Musik täglich während mehrerer Stunden anhören. Bereits nach einer Woche stellten die Forscher eine deutliche Reduktion der Lautstärke des Tinnitus fest. Allerdings erreichten die Ohrgeräusche bereits zwei Wochen nach dem Experiment wieder die alte Intensität. "Um bleibende Verbesserung zu erreichen, scheint also eine kontinuierliche Therapie nötig", sagt Pantev.

In wenigen Monaten läuft an der Uniklinik Münster eine Langzeitstudie mit 300 Tinnitus-Patienten an. Sie soll klären, ob die schmerzfreie und kostengünstige Musikhör-Therapie eine Standardbehandlung werden kann. (Till Hein, DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2011)