Kanzler Gerhard Schröder sprach von einer "historischen Zäsur", die der SPD-Parteitag mit dem Beschluss der Agenda 2010 vorgenommen habe. Dass mehr als 90 Prozent der Delegierten den schmerzhaften Einschnitten ins Sozialsystem zugestimmt haben, ist überraschend. So großer Zuspruch war nach der innerparteilichen Debatte nicht zu erwarten.

Ein beachtlicher Teil der Delegierten hat wohl die eine Hand gehoben und mit der anderen die Faust in der Tasche gemacht. Sie haben sich den Rücktrittsdrohungen des Kanzlers gebeugt, aber nicht aus Einsicht oder gar mit Begeisterung zugestimmt. Denn wie der starke Applaus für die Kritiker der Agenda auf dem Parteitag gezeigt hat, gibt es weiter großes Unbehagen in der SPD über Schröders Reformprogramm.

Der Zusatz 2010 ist zudem ein Etikettenschwindel, denn auch Schröder weiß, dass dieses Reformprogramm nur für heuer ausreicht. Denn schon Versprechungen im Wahlprogramm 2002 wie jene, dass der Kündigungsschutz bleibt und keine Steuern erhöht werden, muss die SPD brechen. Große Problembereiche werden außerdem ausgeklammert: vor allem die Pensionen. Dass die Vorschläge der Expertenkommission unter Bert Rürup völlig ignoriert werden und es nur lapidar heißt, "das Eintrittsalter von derzeit 62,5 Jahren soll der im Gesetz vorgesehenen Altersgrenze von 65 Jahren deutlich angenähert werden", reicht nicht aus.

Die SPD wird nicht darum herumkommen, das heiße Eisen Pensionen anzufassen. Das hat Finanzminister Hans Eichel in den vergangenen Tagen mit Blick auf die Milliardenlücken im Budget schon klar gemacht.

Die Debatte ist zwar vor dem Parteitag abgewürgt worden, aber das Problem besteht weiter: Eichel zufolge werden derzeit 29 Prozent der Budgetmittel zur Finanzierung der Renten herangezogen. Schreitet die Entwicklung ohne Anpassungen weiter, müssten im Jahr 2050 rund 80 Prozent des gesamten Haushalts für die Rente aufgebracht werden. Auch die Reformen im Gesundheitssystem haben den Charakter von Notmaßnahmen. Sie sichern die vorläufige Funktionsfähigkeit des Systems. Beinahe im Monatsrhythmus an der Beitragsschraube zu drehen ist nicht die Lösung, weder bei der Kranken- noch bei der Rentenversicherung. Denn die Sozialversicherungsbeiträge sind schon zwischen 1982 und 1998 von 32 auf 42 Prozent gestiegen.

Dass etwas getan werden muss, um die Lähmung zu überwinden, haben in Deutschland aber auch die Gewerkschaften eingesehen, die ihre Protestaktionen gegen die Agenda fast eingestellt haben. Aber nicht nur ihnen bereitet die Entwicklung Unbehagen. Jeder weiß, dass dies nur der Einstieg in einen Ausstieg vom Versorgungsstaat ist. Die Deutschen müssten von vielem, was ihnen lieb und teuer sei, Abschied nehmen, hatte Schröder gesagt.

Glaubt man den Umfragen, ist eine Mehrheit auch dazu bereit, wenn es denn hilft. Das Hauptproblem Schröders und der Reformbefürworter ist, dass ihre Vorschläge auf dem Prinzip Hoffnung beruhen. Denn keiner kann prognostizieren, wie viele Arbeitsplätze tatsächlich durch die Umsetzung der Reformpläne geschaffen werden. Gleiches gilt für die Ankurbelung der Wirtschaft. Schröder selbst warnt deshalb schon vor der Illusion, dass "in wenigen Monaten" alles besser sei. Mit der Reform werden lediglich die Voraussetzungen verbessert. Die Arbeitgeber, die seit Jahren über die hohen Arbeitskosten in Deutschland klagen, müssen nun ihre Bringschuld einlösen. Denn dass die paritätische Finanzierung etwa beim Krankengeld zulasten der Arbeitnehmer aufgehoben wird, ist ein bemerkenswerter Einschnitt, den eine sozialdemokratisch geführte Regierung den abhängig Beschäftigten zumutet.

Erst in ein paar Jahren wird sich zeigen, ob sich Schröders Mut zur Zumutung gelohnt hat und Deutschland wieder die Wirtschaftslokomotive in Europa wird. Ein Erfolg von Rot-Grün in Deutschland liegt auch im Interesse Österreichs.(DER STANDARD, Printausgabe, 2.6.2003)