Wien - Die Schwemme an Magazintiteln und TV-Dokumentationen täuscht: Hitler mag Dauergast in den Medien sein, auf wissenschaftlicher Ebene jedoch ist der Holocaust keinesfalls "überforscht". Europa hinke diesbezüglich hinter den USA her, sagt der Zeithistoriker Peter Longerich von der Universität London: "In Deutschland etwa gibt es keinen einzigen historischen Lehrstuhl für Holocaustforschung."

Das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI), dessen wissenschaftlichen Beirat Longerich als Sprecher vertritt, hat sich vorgenommen, zum Lückenschluss beizutragen - und drohte am Start steckenzubleiben. Querelen überschatteten das erste Jahr des Bestehens (der Standard berichtete). Der damalige Vorstands-Vorsitzende Anton Pelinka schied im Groll aus.

Zwei Jahre danach kann das neu aufgestellte Institut dennoch eine erste Leistungsbilanz vorlegen. Das VWI hat sich am Aufbau des Archiv-Wegweisers ns-quellen.at beteiligt und unter dem Titel Simon Wiesenthal Lectures eine Veranstaltungsserie etabliert. Begonnen wurde mit der Digitalisierung der holocaustrelevanten Teile des Archivs der israelitischen Kultusgemeinde. Gemeinsam mit den Dokumenten aus dem Nachlass des 2005 verstorbenen Simon Wiesenthal soll daraus eine Fachbibliothek entstehen.

"Dafür, dass vieles noch provisorisch abläuft, ist viel passiert", sagt Vorstandsmitglied Brigitte Bailer-Galanda, Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, und freut sich über einen weiteren Schritt zum Vollbetrieb: Bundesregierung und Stadt Wien haben jeweils 400.000 Euro jährlich zur Finanzierung der nächsten drei Jahre zugesagt.

Es werde schwierig, mit einem so knappen Budget einen sinnvollen Betrieb aufzubauen, urteilt Longerich. Dennoch will das VWI demnächst acht Forschungsstipendien ausschreiben: jeweils vier für Doktoranden und etablierte Wissenschafter, die einen bislang vernachlässigten Blickwinkel einnehmen sollen. "Holocaustforschung findet meist aus der nationalen Perspektive eines Landes statt", sagt Longerich, einer der renommiertesten Historiker seines Spezialgebiets, "vergleichende Forschung fehlt."

Wien sei für derartige Studien nicht nur aus geografischen Gründen ein idealer Standort, meint der Zeitgeschichtler: "Es gibt junge, talentierte Leute mit den entsprechenden Sprachkenntnissen." Was fehlt, sind freilich die notwendigen Räumlichkeiten: Derzeit ist das VWI noch in einer Wohnung untergebracht und auf Herbergssuche.

Nicht als Hürde entpuppt hat sich der Auslöser für den Streit in den Anfangstagen: der als zu restriktiv kritisierte Zugang zum Archiv der Kultusgemeinde. "Natürlich gibt es keinerlei Zensur", versichert Bailer-Galanda: "Das war ein Sturm im Wasserglas." (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2011)