Die feministische Kommunikationswissenschafterin Balsamo ist Professorin für Interaktive Medien an der University of Southern California.

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Ich, der Roboter: Wie der Mensch mit Hightech interagiert, erforscht Anne Balsamo. Hier ein Ausschnitt aus ihrer Robotersammlung.

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Standard: In Ihrem neuen Buch "Designing Cultures" bezeichnen Sie die technologische Vorstellungskraft als Quelle jeder Innovation. Was meinen Sie damit?

Balsamo: Das ist für mich die Fähigkeit, sich vorzustellen, wie wir eine Technologie in Bereichen einsetzen können, für die sie nicht vorgesehen war. Technologische Vorstellungskraft ist überall präsent, etwa wenn Videokameras zur Verbreitung von Youtube-Videos verwendet werden oder Leute Games modifizieren. Viele der Technologien, die heute produziert werden, sind ziemlich banal und von dem abgeleitet, was es schon gibt. Mir geht es darum, wie wir die technologische Vorstellungskraft schulen, provozieren und kultivieren können, sodass neue Technologien über die bloße Wiederholung hinausgehen.

Standard: Ist das eine Frage des Bildungssystems?

Balsamo: Mit der Verfügbarkeit kreativer Produktionsmittel am Computerdesktop kann man neue Applications entwickeln. Die Schulung der technologischen Vorstellungskraft sollte quer durch alle Lehrpläne gehen, egal ob man Geschichte, Informatik oder Kunst studiert. Das muss kultiviert werden.

Standard: Sie fordern mehr ethisches Verantwortungsbewusstsein bei der Entwicklung von Technologien. Warum?

Balsamo: Als ich begann, selbst in der Entwicklung von Medientechnologien zu arbeiten, war ich überrascht, wie viele sehr schnell getroffene Entscheidungen das Design beeinflussen. Vorher nahm ich an, dass die Technologieentwicklung ein rationaler Prozess ist, bei dem man einfach die beste Lösung für ein Problem sucht. Als Entwickler steht man aber oft vor der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, wie das Problem interpretiert, definiert und gelöst werden kann. Jede Wahl basiert schließlich auf Annahmen, die wiederum auf Werten basieren. Hier kommt die Ethik ins Spiel. Ingenieure und Techniker sollten lernen, die Werte zu hinterfragen, die ihren Entwicklungen zugrunde liegen.

Standard: Aber Sie sagen doch selbst, dass jede Technologie die jeweilige Kultur reproduziert?

Balsamo: Alle Technologien sind eingebettet in ein bestimmtes kulturelles Verständnis. So wurden viele alltägliche Technologien wie mein Laptop und mein Smartphone explizit dafür entwickelt, die Informationsverarbeitung zu beschleunigen. Das ist ein kultureller Wert, der fest in den westlichen Staaten verankert ist, die auf einem starken ökonomischen System fußen. Diese Technologien können aber immer auch auf andere Arten genutzt werden. Der größ-te Durchbruch des PCs begann, als wir aufhörten, Computer als Rechenmaschinen zu sehen, sondern uns Gedanken machten, wie er zum Kommunikationsmittel werden könnte. Technologien reproduzieren Bestehendes, bringen aber im Gebrauch Neues hervor. Die Frage ist, wie kreativ wir bei diesen Veränderungen sind.

Standard: Würde sich etwas an technischen Innovationen ändern, wenn mehr Frauen eingebunden wären?

Balsamo: Wenn das Geschlechterverhältnis in Technik und Informatik ungleich ist, gibt es auch ein Ungleichgewicht bei den Vorstellungsressourcen. Ich glaube nicht, dass Frauen anders denken als Männer, aber sie sind unterschiedlich sozialisiert, weil sie in einem Gebiet arbeiten, wo sie oft in der Minderheit und nicht immer unbedingt willkommen sind. Diese Erfahrungen bilden die Vorstellungen anders, als wenn man zur Mehrheit gehört. Diese Perspektive ist eine kreative Ressource, die andere Vorstellungen in den Designprozess einbringt.

Standard: Sind auch die Geisteswissenschaften unterrepräsentiert in Entwicklungsprozessen?

Balsamo: Geisteswissenschafter haben die Methoden, um kulturelle Auswirkungen zu bewerten - egal ob aus Sicht der Soziologie, der Cultural Studies, der Anthropologie, Geschichte oder der Politikwissenschaften. Das könnte sehr nützlich sein, wenn etwas aktiv kreiert wird - nicht erst im Nachhinein. Und dann gibt es noch das ganz neue Feld der Digitalen Geisteswissenschaften, das in den USA gerade richtig boomt. Dabei geht es um sehr komplexe Fragen. Wenn zum Beispiel eine Videodatenbank mit 150.000 Interviews mit Holocaustüberlebenden mithilfe von Algorithmen analysiert werden soll, geht es um Fragen der Geistes-, nicht der Naturwissenschaften.

Standard: In Ihrer frühen wissenschaftlichen Arbeit zu "Cyborg Women" beschäftigten Sie sich mit den Auswirkungen von Hightech auf den Körper. Kehrt das Körperliche im Umgang mit Technologien wie Touchscreens und Tablets wieder?

Balsamo: Die Biologin Donna Haraway (Verfasserin des "Manifesto for Cyborgs") war eine der ersten, die sagte: Es gibt keinen natürlichen Körper mehr, er ist vollkommen durchdrungen von Technologie, wir modellieren ihn mit Vitaminen, funktionellem Essen, Implantaten usw. Zur selben Zeit entstanden Virtual Reality und Cyberpunks, die sagten: Wir brauchen keine Körper mehr im Cyberspace. Auch das traf nicht ein. Der Körper wurde zum Interface zwischen dem Menschen - mit all seinen Fähigkeiten und Wünschen, zu kommunizieren, sich zu informieren, sich zu vernetzen - und seinen Maschinen. Der Körper ist zum entscheidenden Faktor im Technologiedesign geworden. Es geht darum, die Maschinen an die natürlichen Bewegungen, die Gestik des Menschen anzupassen.

Standard: Worum drehen sich Ihre aktuellen Forschungsprojekte?

Balsamo: Ich arbeite an Technologien zur öffentlichen Interaktion. Mich interessiert, wie die riesigen Anzeigetafeln im städtischen Raum, die meist der Werbung dienen, für neue Kommunikationsformen genutzt werden können: für mobile Informationstools, für Crowdsourcing oder das Übertragen von Nachrichten. Andererseits arbeite ich an Forschungsprojekten zu interaktiver Architektur, also der Weiterentwicklung sensorgesteuerter Gebäudetechnologie zu Gebäuden, die mit den Nutzern kommunizieren können. (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2011)