
Tatort Kinderheim: Nicht nur am Wilhelminenberg sollen Kinder missbraucht worden sein
Die Frage der Glaubwürdigkeit stellt sowohl Opfer als auch Gericht vor Probleme – wenn auch vor sehr verschiedene
Wien – War der Gürtel braun oder schwarz? War es morgens oder abends, als das Kind damit verprügelt wurde? Und wer kann das nach 40 Jahren noch genau sagen? Die Frage der Glaubwürdigkeit wird immer gestellt, wenn Fälle von Misshandlung oder sexuellem Missbrauch nach langer Zeit publik werden.
"Es wäre für die Opfer furchtbar, wenn herauskommen sollte, dass die Geschichte mit den Massenvergewaltigungen am Wilhelminenberg nicht stimmt", sagt Erika Bettstein von der Opferhilfe Weißer Ring. "So etwas könnte die Glaubwürdigkeit aller Opfer zerstören und kann sie erneut traumatisieren."
Anders erinnert
Opferschutzorganisationen gehen prinzipiell davon aus, dass die Geschichten stimmen. "Es ist möglich, dass ein Ereignis nach so vielen Jahren anders dargestellt wird oder anders erinnert wird, als es stattgefunden hat", sagt Bettstein. "Für uns zählt aber, dass es für die Person jetzt diese Bedeutung hat."
Ein Beweis, der vor Gericht halten würde, ist daher nicht nötig für Betreuung und finanzielle Leistung – weil er oft auch gar nicht mehr zu erbringen sei. "Es geht uns nicht um die detailgetreue Wahrheitsfindung, sondern um das persönliche Erleben."
Sobald ein Fall vor Gericht landet, wird der Zugang ein ganz anderer: "Für Gutachter gilt die Null-Hypothese", sagt Psychiater Reinhard Haller. "Man geht davon aus, dass das Opfer unrecht hat, und schaut, ob man in der Aussage Hinweise findet, dass es doch stimmt."
30 bis 50 Prozent aller Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs seien laut internationalen Studien falsch, meint Haller. Immer öfter würde der Vorwurf etwa als Waffe in Scheidungsfällen verwendet werden, "Ich kenne keine wirksamere Form der sozialen Hinrichtung, als jemanden des Kindesmissbrauchs zu beschuldigen", sagt Haller.
Keine Gutachter
Das Problem: In Österreich gebe es keine gut ausgebildeten Glaubwürdigkeitsgutachter, genauso wenig wie einen Lehrstuhl für forensische Psychologie. Richter würden von Fall zu Fall entscheiden, ob sie ein Gutachten einholen oder nicht.
In der Opferbetreuung hat so etwas nichts verloren, sagt Monika Pinterits, Jugendanwältin der Stadt Wien. "Genau das war ja oft das Problem: dass vielen dieser Menschen jahrelang nicht geglaubt wurde." (Tobias Müller, DER STANDARD Printausgbe, 21.10.2011)