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Einen zentralen Satz ihrer Forderungen müssen die Unterstützer der Occupy-Bewegung (hier bei einem Protestmarsch in Toronto) erst noch einlösen: "Wir sind die 99 Prozent".

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Die Occupy-Proteste gegen die Massierung des Reichtums in den Händen weniger verstehen sich auch als Demokratisierungsbewegung. Antworten auf gestellte Fragen fehlen aber noch.

Berlin – Schnurrbart und Spitzbart, das sind zwei wesentliche Insignien der neuen Protestbewegung gegen die Macht des Finanzkapitals. Das Prinzip lautet in diesem Fall nicht: Gesicht zeigen. Es lautet: Maske zeigen. Die Maske steht für einen Mann aus dem 17. Jahrhundert, der durch ein Comic und einen Film populär wurde: Guy Fawkes, katholischer Rebell gegen den englischen König, war das Vorbild für den namenlosen Rächer V in V for Vendetta, der in einem totalitären London die Massen zu mobilisieren versucht.

Wie sich diese Geschichten genau auf heute übertragen lassen, ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist die Konstellation: Dem Volk voraus geht eine revolutionäre Avantgarde, die ebenso stil- wie treffsicher ist. Die Mächtigen können sich nicht mehr in Sicherheit wiegen. Die Vendetta-Maske ist nur ein kulturelles Zeichen in dem komplexen Geschehen, das derzeit unter dem Slogan "Occupy" in den westlichen Ländern Gestalt anzunehmen beginnt.

"Wir sind die 99 Prozent"

Zweifelsfrei handelt es sich um eine Protestbewegung, und es wäre verfehlt, sie zynisch schnell auf den Mangel eines gemeinsamen politischen Nenners festzulegen. Einen zentralen Satz ihrer Kundgebungen müssen die vornehmlich jungen Leute aber erst einlösen: "Wir sind die 99 Prozent", das würde letztendlich ein Bündnis mit den großen, alten Organisationen (Gewerkschaften, Parteien, NGOs) erfordern, von denen sich die Occupy-Bewegung dezidiert unterscheidet.

Das liegt vor allem an der starken kommunikativen Kompetenz der Bewegung, die mit den neuen Medien in einer Weise umgeht, die neue Exklusivitätskriterien schafft. Darin liegt ein Widerspruch – zwischen Graswurzelstrategie und technischer Avantgarde -, der noch zu klären sein wird. Denn die Proteste gegen die Massierung des Reichtums in den Händen weniger verstehen sich eindeutig auch als Demokratisierungsbewegung."

Was mit einer Besetzung des Zuccotti Parks in Manhattan und dessen symbolischer Umbenennung in Liberty Plaza vor rund einem Monat eine markante Ursprungsszene bekam, reicht eigentlich weiter zurück und speist sich aus vielen Quellen. In Spanien tauchten die ersten Zeltlager deutlich früher als in New York auf, von dort kommt auch ein Begriff, der seither in allen Sprachen die Runde macht und auf ein wesentliches Motiv verweist: "Asamblea", deutsch: Vollversammlung, bezieht sich auf eine basisdemokratische Sammlung von politischen Willensäußerungen, die notgedrungen zuerst einmal eine neue Unübersichtlichkeit schafft.

Globales Grundeinkommen

Den mühsamen Weg durch die teilweise erst zu schaffenden neuen Institutionen machen einige arabische Länder gerade vor. Dass Ägypten mit dem Tahrir-Platz eine wesentliche Inspiration für die Occupy-Bewegung darstellt, ist unübersehbar und lässt erkennen, dass hier auch eine noch amorphe Globalisierung von unten stattfindet, die nach neuen Formen von Repräsentation sucht. Für Beobachter und Vertreter der offiziellen Politik ist die Bewegung gerade deswegen schwer zu begreifen, weil in ihr sehr unterschiedliche Politiken durcheinanderlaufen: Individualismus und Idealismus mit teils utopisch klingenden Forderungen wie dem nach einem globalen (!) Grundeinkommen (konkret: 600 Euro) verbinden sich mit Pfadfinder-Mentalität und Techie-Faszination.

Der vielleicht überraschendste Aspekt ist, dass die junge Bewegung ein gerade einmal zehn Jahre altes Netzwerk wie Attac schon wieder alt aussehen lässt. Man kann inzwischen beinahe schon von zwei Generationen der "Globalisierungskritik" sprechen: Die erste hatte einen entscheidenden Moment in Seattle 1999 und fand die ganzen Nullerjahre hindurch vor allem bei den Treffen der G-20 immer neue Konzentrationspunkte; die zweite wird man möglicherweise eines Tages als im Ursprung mediterranes Geschehen (Tunis, Kairo, Barcelona) begreifen.

Inwiefern die neue Bewegung bereit ist, auf schon geleistete Professionalisierung etwa bei Attac zurückzugreifen, wird sich als bedeutsam erweisen. Die Tobin-Tax, lange Zeit eine zentrale Forderung der Globalisierungskritiker, taucht gegenwärtig kaum auf. Hingegen kommen vor allem aus den USA weiter reichende Parolen: "End the Fed". Die Abschaffung der Zentralbanken ist ein Motiv des Libertarismus, einer radikalen Denkschule, die für die politische Rechte wie für die Linke gleichermaßen Plausibilität hat, und von der gegenwärtig eine untergründige Attraktion ausgeht.

Und schließlich stellt sich auch die Frage nach der politischen Gewalt: Inmitten der friedlichen Proteste taucht eine ältere, "autonome", organisierte Linke wieder auf, die wie kürzlich in Rom ihr eigenes Projekt verfolgt. Wer die Maske von Guy Fawkes gegen das System ins Treffen führt, geht dazu zumindest symbolisch nicht auf Distanz. Denn in V for Vendetta führt der Weg in die Revolution über den Terrorismus. (Bert Rebhandl aus Berlin, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23.10.2011)