Wenig hat sich in den letzten siebentausend Jahren geändert. Die Maler sind gestorben, ihre Nachfahren aus dem Vall de Laguart weggezogen. Es ist einsamer geworden seitdem. Und noch stiller. Niemand hockt mehr in der Nacht hoch oben in den Nischen am Fels, macht Feuer, schläft neben der Glut im Schutz der Berge.
Die Gemälde an der Wand im Schatten eines Felsvorsprungs sind geblieben, in kräftigem Rotbraun auf hellgrauem Grund. Abstrakt sind sie, sehr reduziert, ein Stierkopf, Hörner, der Leib eines tanzenden Menschen, der die Arme Richtung Himmel reckt, dazu ein Hirsch, ein Jäger, alles in Rotbraun, manches einen halben Meter groß, anderes winzig.
So ähnlich hat Picasso gemalt. Die Bilder auf dem Stein könnten modern sein und sind es nicht. Die Schöpfer dieser Skizzen waren Steinzeitmenschen, die ersten Siedler, Bauern und Hirten im mancherorts bis heute schwer zugänglichen Hinterland der spanischen Costa Blanca. Was sie gerade hierher gelockt hat? Auf diesen Flecken Erde abseits von allem, der heute Pla de Petracos genannt wird? Weil diese Täler fruchtbar, die Quellen klar, die Berge von der Natur geschaffene uneinnehmbare Festungen sind.
Und weil der Ausblick von den Kuppen der Berge der Sierra del Penyó, Sierra del Migdia und der Sierra de Segaria Richtung Osten grandios schön ist und es wahrscheinlich schon vor Tausenden von Jahren war: hinab auf das Mittelmeer, dorthin, wo gerade die Fähre von Denia nach Ibiza den Horizont hinunterkippt.
Das Schiff hat es damals noch nicht gegeben, auch nicht die vielen Ferienhäuser, die Appartementgebäude, die Baukräne, die Küstenautobahn zwischen Sierras und Meer. Gar nichts von all dem war da - und fast nichts von dem, was jetzt dort unten an der Küste möglich ist, hat in siebentausend Jahren den Weg bis ins Vall de Laguart im Hinterland geschafft. Fels blieb hier Fels, ohne dass ihm eine Vielzahl von Fundamenten aufgepfropft wurde. Ohne dass im Hunger nach lukrativen Urbanisierungen breite Straßen hindurchgesprengt wurden. Ein paar Terrassen für Ackerbau, für Olivenhaine und Kirschbäumchen gibt es. Es sind wenige geblieben. Eine Kapelle steht noch in ein paar hundert Metern Entfernung. Ihre Außenwände sind brüchig, und das Dach fehlt.
Sie sieht aus wie eine klerikale Investitionsruine, wie der Versuch, Gebete in einen Winkel zu bringen, wo niemand ist und deshalb keiner zum Gottesdienst kommen kann. Die Zweige eines Olivenbaums ragen inzwischen durch die leeren Fensteröffnungen, und abseits blühen ein paar Orchideen an einem kaum erkennbaren Pfad. Weiter südöstlich im Jalón-Tal ist die Gegenwart schon angekommen. Lastwagen brachten Ziegelsteine und Zement für immer neue Feriensiedlungen dortin. Zwei-, dreihundert Höhenmeter unterhalb der Felszeichnungen von Pla de Petracos gibt es eine Piste durchs Tal. An den meisten Stellen ist sie zu schmal für Gegenverkehr. Zehn, zwanzig Autos mögen hier am Tag unterwegs sein - und jeder Fahrer wird beten, dass ihm gerade keiner entgegenkommen möge.
Die Unesco hat die Summe der Felszeichnungen in den Bergen des Landes Valencia bereits 1998 gleichrangig mit den Höhlen von Lascaux und von Altamira in den Status eines "Welterbes der Menschheit" erhoben. Es ist ein dezentraler Schatz - verteilt auf Fundstellen in einem etwa 200 mal 30 Kilometer messenden Gebiet. Alles in allem rund 420 solcher Stätten sind verzeichnet, die meisten im Hinterland der Costa Blanca. Jedes Jahr kommt mindestens eine neue hinzu - entdeckt häufig von Wanderern weit abseits der Dörfer, von Hirten, die entlaufenen Ziegen hinterhersteigen, von Jugendlichen auf Abenteuersuche. Bis zu 1500 Meter hoch sind die Berge hier, und im Winter liegt Schnee auf den Gipfeln, obwohl das Mittelmeer keine zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt ist.
Der Tourismus ist trotzdem fern. Kaum eine Karte verzeichnet die Felszeichnungen bei Benichembla als Ausflugsziel, ein einziges Hinweisschild kurz hinter dem Ort weist von der schmalen Landstraße CV-720 Richtung Castell de Castells aus den Weg rechts ab auf die unscheinbare Piste, die nach gut eineinhalb Kilometern unterhalb der Felszeichnungen vorbeiführen wird. Den meisten Einheimischen ist nicht bewusst, welche Schätze ihre Felswände zieren. "¿Qué pinturas rupestres?", fragen sie irritiert zurück, wenn sich mal jemand nach dem Weg zu den tanzenden Figuren aus der Steinzeit erkundet.
Wissenschaftern ist das nur recht. "Die ersten Siedler der Region in den Jahren zwischen fünftausend und dreitausend vor Christus waren fleißige Maler", findet José Maria Segura vom regionalen Archäologischen Museum in Alcoy. Angesichts der Vielzahl wertvollster steinzeitlicher Felsmalereien ist es unmöglich, alle Fundstätten zu schützen, alle auszuschildern erst recht: "Unkenntnis bewahrt vor Vandalismus".
Bis vor rund 400 Jahren siedelten Mauren in diesen Tälern. Vielleicht kamen auch sie ursprünglich wegen des milden Klimas. Sie blieben wegen der Felsen. Denn die Täler waren kaum einnehmbar und boten ihnen natürlichen Schutz zu Zeiten der Reconquista. 1609 erst verloren sie dennoch die entscheidende Schlacht bei Benichembla. Ob die Mauren die Felsmalereien von Pla de Petracos kannten? Vielleicht. Wiederentdeckt wurden sie erst 1980.
Inzwischen schützt ein hoher Metallzaun wenigstens hier die Kunst aus der Steinzeit vor Berührungen - und vor Ergänzungen. Ein paar Meter weiter hat sich dennoch irgendwer nicht abhalten lassen und zukünftigen Besuchern per Ritztechnik die Botschaft "Ramón+Gisa" überliefert.
Der Tourismus in den Bergdörfern unterdessen steckt noch in den Kinderschuhen - und beginnt doch zu wachsen: In winzigen Siedlungen mit nur drei Dutzend Einwohnern wie z. B. Margarida eröffnen die ersten "Casas rurales" in stillgelegten Ölmühlen und verlassenen Bauernhäusern. (Helge Sobik/DER STANDARD/Printausgabe/22.10.2011)