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Immer wieder werden Verletzte gefunden: Im Bild wird ein 16-Jähriger, der aus einem zerstörten Haus geborgen werden konnte, auf einer Stabilisierungsbahre weggetragen.

Foto: EPA/TOLGA BOZOGLU

"Ich fahr' nach Van", hat der junge Mann auf dem Busbahnhof von Diyarbakir gesagt, "mein Freund ist tot. Heute abend ist die Beerdigung." Vier Fahrstunden hinter Diyarbakir kommt Bitlis, die erste Stadt im Erdbebengebiet, und als der Bus in Tatvan am Ufer des Van-Sees einrollt, wird es schon dunkel. 279 Tote haben die Behörden bis dahin gezählt. Van und Ercis auf der anderen Seite dieses riesigen Sees liegen noch vor uns.

Mit Erdbebenkatastrophen haben die Türken Erfahrung. Alle zehn, 15 Jahre kommen sie. Dazwischen wackeln immer irgendwo im Land die Häuser. Praktisch jeden Tag bebt die Erde, kaum spürbar mit 2,5 oder 3,5 Punkten auf der Richterskala. Sonntagmittag aber waren es 7,2 am Van-See im Südosten der Türkei. Es war das stärkste Beben seit der Katastrophe von 1999 um Izmit am Marmarameer, als fast 18.000 Menschen umkamen und die Millionenmetropole Istanbul dem großen Desaster noch einmal entging.

Stadt Tatvan steht, Erics kaputt

Ercis, die Stadt an der Ostseite des Van-Sees, ist kaputt, Tatvan aber steht. Es hätte auch andersherum sein können. Nein, sagt Abdullah Cetin, es ist eine Frage der Konstruktion, und dann zeigt er Bilder auf seinem Mobiltelefon, die er am Morgen in Ercis aufgenommen hatte:ein Wohnblock, der steht, als sei nichts gewesen, und gleich daneben ein anderer, von dem nur noch eine Geröllhalde geblieben ist, auf der eine Rettungsmannschaft in orangefarbenen Anzügen steht.

"Die Leute hier haben kapiert, dass sie erdbebensicher bauen müssen", sagt der Unternehmer Cetin. Von standfesten Konstruktionen versteht er etwas. Gemeinsam mit seinen zwei älteren Brüdern hat er die Brücke von Mostar in Bosnien restauriert. Darum heißt auch das achtstöckige Hotel, das er gerade in Tatvan eröffnet hat, "Mostar". "Meine Familie und ich schlafen die nächste Zeit über hier", sagt Cetin. Spricht es und sieht auf die Kronleuchter in der Lobby, die zu wackeln beginnen. Wieder ein Nachbeben.

Über 100 Nachbeben

Weit über 100 Nachbeben haben die Seismologen bisher in der Region gezählt, bis Donnerstag sei noch mit schweren Erschütterungen zu rechnen. Dann soll auch der Schnee kommen. Schon jetzt ist es abends kalt auf den Straßen. Selbst in Tatvan sitzen manche die Nacht über dort, bis über den Kopf eingewickelt in kitschigen Decken aus den Wohnzimmern, weil sie fürchten, ein neuer Erdstoß könnte sie in den eigenen Wänden im Schlaf überraschen.

Mehr als 1300 Menschen wurden bei dem Beben in der Provinz Van verletzt. 400 werden noch vermisst, heißt es. Doch wie es in den zum Teil schwer zugänglichen Dörfern zur Grenze nach dem Iran und Armenien wirklich aussieht, ist auch am Montag noch nicht klar. Hubschrauber waren in den Bergen um den Van-See im Einsatz, um Verletzte zu bergen. Das wirkliche Problem seien die Dörfer mit ihren Lehmhäusern, hatte Tayyip Erdogan gesagt.

Anders als 1999, als die damalige Regierung planlos und überfordert der Erdbebenkatastrophe von Izmit gegenüberstand, wollen Erdogan und seine Minister nun zeigen, dass sie die Lage im Griff haben. 2400 Helfer sind im Einsatz. Flugzeuge brachten Zelte, Lebensmittel und Medikamente in die Unglücksregion. Fernsehen und Zeitungen überbieten sich mit detaillierten Meldungen über Mensch und Maschine, die zur Rettung eingesetzt werden. 65.000 Laib Brot würden gebacken für alle, die kein Gas haben oder kein Dach über dem Kopf, kündigte der Provinzgouverneur für den Montag an.

In der Nachbarprovinz Hakkari griff die kurdische Arbeiterpartei PKK vergangene Woche Militärunterkünfte an und provozierte damit den Einmarsch der türkischen Armee im Nordirak - am Montag rollten die ersten Panzerverbände über die Grenze auf die PKK-Lager zu. Die türkischen Medien sprachen vom "Fluch des Terrors" , um den Schock in der Bevölkerung zu beschreiben. Die neuerliche Erdbebenkatastrophe aber ist so etwas wie der "Fluch des Landes" . Anders als der Krieg gegen die PKK, der eines Tages enden mag, können die Türken diesem Fluch nicht entkommen. (Markus Bernath aus Tatvan, DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.10.2011)