Es sind schwierige Zeiten für David Cameron. Sonntag musste er sich beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy anschnauzen lassen: Er habe "eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten". Damit meinte er, vom formvollendeten Französisch auf gut Deutsch übersetzt: "David, halte endlich einmal dein dreckiges Maul".
Der Franzose ist für seine Impulsivität berühmt-berüchtigt. Aber in diesem Fall sprach er einigen Regierungschefs aus der Eurozone wohl aus dem Herzen: Die sind es leid, von jemandem dauernd „gute“ Ratschläge zu bekommen, der den Euro bei jeder Gelegenheit schlechtredet und dessen Einführung prinzipiell ablehnt; aber ansonsten immer penetrant darauf beharrt, dass Großbritannien von den Vorteilen des europäischen Binnenmarktes und dessen Währungsstabilität maximal profitiert, ohne sich in einer Krise wie jener Griechenlands auch nur minimal solidarisch zu zeigen.
Zwei Tage später bekam Cameron Ärger zu Hause im Unterhaus. Ein Antrag auf EU-Austritt des Königreichs wurde Dienstag zwar abgelehnt. Ultrakonservative Parteifreunde des britischen Premierministers hatten ihn eingebracht. Für den Toryanführer war es dennoch ein Schlag ins Gesicht, weil 80 Abgeordnete, fast ein Viertel der Fraktion, sich seiner Aufforderung widersetzten, bei dieser Kampfansage gegen Europa nicht mitzumachen. Cameron verliert dies- und jenseits des Kanals an Boden. In London schlägt die Krise mehr und mehr durch. Die Bank of England musste vor kurzem mit mehr als 80 Milliarden Pfund intervenieren, um die Märkte zu stützen, die Konjunktur anzukurbeln.
Und in Brüssel drohen die 17 Mitgliedsländer der Eurozone jetzt ernst zu machen mit dem Vorhaben, enger zusammenzurücken und „Kerneuropa“ zu schaffen. Das war auch der sachliche Hintergrund für die verbalen Ausfälligkeiten Sarkozys.
Die drohende schleichende Isolation, die Cameron und die britische Regierung befürchten, und die der Premier auch gleich wortreich in Frage gestellt hat, zeigte sich beim jüngsten EU-Gipfel am Sonntag in Brüssel bereits sehr deutlich, wenn auch vorerst nur symbolisch.
Nach geltendem EU-Vertrag von Lissabon gibt es nur ein höchstes Gremium in der Union, den Europäischen Rat (ER). Dem gehören die Regierungschefs aller 27 Mitgliedsländer an, ob im Euroraum oder nicht. Ihr ständiger Vorsitzender ist der auf vorerst 30 Monate gewählte Belgier Herman Van Rompuy. Der ER trifft ultimativ die wichtigsten Entscheidungen in Europa.
Mit der Eurokrise etabliert sich nun aber neben dem ER auch ein Euro-Gipfel der 17 Staats- und Regierungschefs aus der Eurozone. Da ist Cameron, ebenso wie Polens Premier Donald Tusks, natürlich nicht dabei. Der Euro-Gipfel kam erstmals 2008 rein informell zusammen, nach dem Fall von Lehman Brothers, wegen der Gefahr von Bankenzusammenbrüchen, um rasch Krisenfeuerwehr spielen zu können, sollte das nötig sein.
Mit der Griechenland-Krise nahm die Zahl der Euro-Gipfel langsam zu, fünf gab es bis zum Sonntag, wobei jener am 21. Juli 2011 der inhaltlich mit Abstand wichtigste war: Da beschlossen die Euro-Chefs nicht nur das zweite Griechenland-Hilfspaket. Sie legten fest, dass auf Dauer die Weichen für einen großen europäischen Währungsfonds gestellt werden, der nicht nur Hilfskredite vergibt, sondern tief in das Staatsanleihengeschäft und die Bankenhilfe eingreifen kann.
Und, von der Öffentlichkeit vorerst unbemerkt: Auf Druck der deutschen Kanzlerin Angela Merkel schicken sie sich jetzt an, die EU-Verträge wieder zu reformieren, darin die Eurozone und die EU-Institutionen zu stärken.
Das reicht, um das Missfallen der Briten zu erregen. Daneben haben Deutschland und Frankreich aber auch noch dafür gesorgt, dass die EU-Kommission im September einen starken Vorstoß zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer machte. Das wiederum geht frontal gegen die Haltung der Briten, die eine Tobin-Tax wegen der überragenden wirtschaftlichen Bedeutung der Londoner Finanzmärkte für die britische Wirtschaft kategorisch ablehnen.
Damit nicht genug: Beim EU-Gipfel am Sonntag kamen die 17 Euroländer schließlich überein, dass sie ihr Vorgehen auf allerhöchster Ebene auch formal ausbauen wollen – in einer informellen Vereinbarung neben dem EU-Vertrag sozusagen, der das so (noch) nicht vorsieht. Ab sofort wird der Euro-Gipfel (mindestens) zwei mal pro Jahr tagen. Den Vorsitz übernimmt – erraten – Herman Van Rompuy, der damit eine Doppelfunktion hat.
Als regulärer Präsident des ER der 27 EU-Staaten zieht er vertragsgemäß die Fäden für die Union. Als informeller Präsident der Staats- und Regierungschefs der Eurozone tut er das für die Mitglieder der Währungsunion. Cameron stößt das natürlich sauer auf.
Aber damit nicht genug: Die 17 Euro-Regierungschefs haben dazu auch festgelegt, dass EU-27-Gipfel in Zukunft v o r den jeweiligen Euro-Gipfeln stattfinden. Als Vorprogramm sozusagen. In der Praxis heißt das, dass die wichtigsten Fragen naturgemäß am Schluss, und dann im Kreis der Regierungschefs der Währungsunion fallen.
Darüber wurde heftig gestritten, und in diesem Zusammenhang muss man die Bemerkungen Sarkozys verstehen. Die Sache ist aber ernst, zeitigte bereits skurrile Auswirkungen.
Cameron wollte die neue Hackordnung nicht so einfach hinnehmen. Nach Sonntagabend bestand er darauf, dass bei der Gipfelfortsetzung am Mittwoch zuvor auch die 27 EU-Finanzminister nach Brüssel kommen müssten, um die anstehenden Beschlüsse vorzubereiten. Heute Nachmittag wurde das prompt wieder abgesagt. Denn die Finanzminister hätten Däumchen drehen müssen.
Die Musik spielt bis Nachmittag in Berlin, wo der Bundestag über das Mandat von Kanzlerin Angela Merkel beim Ausbau des Euro-Rettungsschirmes EFSF verhandelt und abstimmt.
Schlimm genug. Nun sieht die Tagesordnung des fortgesetzten Spitzentreffens in Brüssel so aus:
18 Uhr, Beginn des Europäischen Rates der 27 EU-Länder (mit Cameron), Fototermin.
19 Uhr 15: Beginn des Euro-Gipfels der 17 Eurostaaten (mit Merkel, Sarkozy), open end.
Die zehn Nicht-EU-Länder müssen also erstmals am eigenen Leib erfahren, dass sie eigentlich kaum gebraucht werden, wenn es in der Eurozone „um die Wurscht“ geht. Sie dürfen gerade einmal für eine Stunde antanzen, deswegen sagte er extra eine Australien- und Neuseelandreise ab. Das bereitet neben den machtbewussten Briten seit einigen Wochen vor allem den Polen ziemliches Kopfzerbrechen: Aber die polnische Regierung unter dem liberalen Premier Donald Tusk scheint daraus ganz andere Schlüsse zu ziehen als London: Polen setzt auf eine Stärkung der Union, auf mehr Integration und eine weitere EU-Annäherung; erwägt, bei den Eurohilfspaketen teils mitzumachen, auch wenn die Polen den Zloty und nicht den Euro haben; und die Regierung in Warschau überlegt offenbar, wie das Szenario eines Euro-Beitritts in einigen Jahren aussehen könnte).
Anders Cameron. Er pflegt unentschiedene Distanz. Britische Regierungen im Allgemeinen, die konservativen Free-Marketers aber ganz besonders, lieben es, bei allen sich bietenden Gelegenheiten gegen gemeinsame EU-Regeln, gegen die Brüsseler Bürokratie zu wettern. Erst vor ein paar Wochen hat Camerons Außenminister William Hague seinen alten Sager wiederholt, dass die Währungsunion mit dem Euro „kollektiver Wahnsinn“ sei, die Eurozone ein „brennendes Haus ohne Fenster“.
Aber solche Angriffe sind seit Jahrzehnten stets wohl kalkuliert: Man will die traditionell EU-skeptischen (konservativen) Bürger eines über Jahrhunderte dominierenden Weltreiches bei Laune zu halten. Aber kein Premierminister würde ernsthaft wieder zurückwollen zum Status vor 1974, als die Briten erst im zweiten Anlauf (und nach einem ersten Veto der Franzosen) in die damalige EWG aufgenommen wurden.
Großbritannien ist einer der größten Profiteure des Binnenmarktes, überweist als Nettozahler jedes Jahr aber auch Milliarden Euro nach Brüssel. Fast die Hälfte seiner Exporte und Dienstleistungen gehen in die Union. Das zeigt, warum die Insel und das Pfund längst nicht so unabhängig sind von der EU wie manche gerne glauben machen wollen. Jenseits allen öffentlichen EU-Bashings durch Politiker sind die Diplomaten Ihrer Majestät sogar absolut top, was das Engagement in den Institutionen der Gemeinschaft angeht. Ein Ausschluss aus diesem Getriebe würde sie und Cameron viel mehr treffen als sie glauben machen.