
Rollentausch als Spiel und als Notwendigkeit: Jeanne (Malonn Lévana, li.) und ihre Schwester Laure (Zoé Héran).
Ein Horde Kinder beim Fußballspielen auf einer Wiese: Es wird gerannt, geschwitzt, gerempelt, gefallen und gejubelt. Irgendwann muss man auch mal aufs Klo - das ist üblicherweise der Moment, wo sich die Mädchen in die Büsche schlagen, während die Buben einfach mal schnell am Spielfeldrand pissen. Ein Moment, den der drahtige Mikael peinlich zu vermeiden sucht, weil sich bei dieser Gelegenheit unweigerlich herausstellen würde, dass er den Körper eines Mädchens hat.
Mikael heißt eigentlich Laure. Die Zehnjährige ist die ältere von zwei Töchtern eines jungen Ehepaares (Sophie Cattani und Mathieu Demy). Während ihre kleine blond gelockte Schwester Jeanne (Malonn Lévana) ein Zimmer in üppigem Rosa bewohnt und auch sonst auf jedweden handelsüblichen Kleinmädchenkram besteht, ist Laure (Zoé Héran) ein Tomboy. Ihre Eltern erwarten kein geschlechterrollenkonformes Verhalten (der Film spielt in den 1980er-Jahren), die Verschiedenheit der beiden Mädchen wird ganz einfach als deren Individualität akzeptiert. Allerdings geht die Tendenz zum Burschikosen bei Laure gewissermaßen bis unter die Haut: Sie spielt nicht einfach mit Maskeraden und Identitäten. Sie möchte auch tatsächlich und mit aller Kraft ein Junge sein.
Die demnächst 31-jährige französische Drehbuchautorin und Filmemacherin Céline Sciamma hat bereits ihren ersten langen Spielfilm, der an der Quinzaine in Cannes uraufgeführt wurde, in der Lebenswelt Heranwachsender angesiedelt: In Water Lilies / Naissance des pieuvres (2007) verliebte sich die scheue fünfzehnjährige Heldin in eine stolze Synchronschwimmerin. In Tomboy nutzt Laure einen Umzug ihrer Familie zu Beginn der langen Sommerferien, um sich als Mikael neu zu erfinden und in der Nachbarschaft einzuführen.
Das Doppelleben, das er/ sie alsbald führt, ist reizvoll, aber auch gefährlich. Denn Mikael geht seine Freundschaften zu den Nachbarskindern - und vor allem zur gleichaltrigen Lisa - unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein; dieses Hintergehen könnte am Ende auch für ihre liebevollen Eltern schwerer wiegen als der Umstand, dass Laures Wunsch- und Selbstbild an gesellschaftliche Normen rührt.
Posen, Outfits, Gesten
Nicht zuletzt die Leinwandpräsenz der jungen Hauptdarstellerin Zoé Héran macht die Geschichte so fesselnd: Das Changieren zwischen kindlichen Verhaltensweisen und der Dringlichkeit ihrer Selbstverwirklichung gelingt ihr scheinbar mühelos. Ihre mit großer Ernsthaftigkeit ausgeführten Anverwandlungen einer rebellisch konnotierten Männlichkeit, das Einüben von entsprechenden (Rocker-)Posen, Outfits, Gesten und Blicken vorm Spiegel, wirken eindrucksvoll.
Der Film schlägt insgesamt nichtsdestotrotz einen leichten Tonfall an - da und dort (vor allem was die reichlich altkluge, kleine Jeanne betrifft) wird er ein bisschen klischiert, aber in der Hauptsache lässt er sich Zeit, sehr spezifische Figuren und Situationen zu entwickeln. Die Jury des Teddy Awards prämierte Tomboy im Februar im Panorama der Berlinale prompt. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Printausgabe, 27.10.2011)