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"Eine Gesellschaft ohne Alkohol ist nicht denkbar, aber Alkohol ist zum Leben nicht notwendig."

Foto: APA/Helmut Fohringer

Nestor Kapusta ist inidividualpsychologischer Analytiker an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie in Wien. Er pomovierte zum Thema „Substanzmissbrauch bei Jugendlichen", forscht aktuell zum Thema Epidemiologie von Substanzabhängigkeiten und ist seit 2006 Lehrbeauftragter an der Medizinischen Universität Wien.

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Erste Erfahrungen mit Alkoholmissbrauch machen Jugendliche mittlerweile wesentlich früher, größer wird er deswegen aber nicht. Warum Grenzen ausgelotet werden müssen und welche Rolle dabei das familiäre Umfeld spielt, erklärt der Wiener Psychiater Nestor Kapusta. 

derStandard.at: Ihre Befragung zu Alkoholkonsum unter Jugendlichen hat ergeben, dass 35 Prozent der Burschen und 21 Prozent der Mädchen mehrmals pro Woche Alkohol trinken. Wie erklärt sich der Unterschied?

Kapusta: Alkoholkonsum zählt zu den verbotenen Dingen für Jugendliche. Das sich-über-Normen-hinwegsetzen ist ein männliches Rollenbild, das in der Kultur immer noch vorherrscht, wenngleich Veränderungen erkennbar sind. Mittlerweile rauchen etwa gleich viele Frauen wie Männer. Das könnte eine gesellschaftliche Entwicklung sein, dass die Emanzipation der Frau auch gesundheitliche Nachteile mit sich bringt. Es gibt aber auch biologische Unterschiede: junge Männer sind in der Pubertät durch die verstärkte Testosteronproduktion impulsiver und aggressiver. Und Aggressivität und Impulsivität sind Risikofaktoren für Alkoholmissbrauch.

derStandard.at: Warum greifen gerade Jugendliche besonders stark zum Alkohol?

Kapusta: Während der Pubertät, wenn die Hormone nach der Latenzphase wieder eine Rolle spielen, vergleichen sich Jugendliche mit anderen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Identität: Bin ich so wie die anderen, bin ich anders, wie soll ich sein? Das macht Angst und birgt viel Unsicherheit. Die Erfahrungen mit Alkohol gehören zum Leben eines Jugendlichen dazu, um Erwachsenenrollen zu lernen. Eine Gesellschaft ohne Alkohol ist nicht denkbar, aber Alkohol ist zum Leben nicht notwendig. Dadurch, dass in unserer Gesellschaft getrunken wird, werden Jugendliche unweigerlich damit konfrontiert - es ist wie mit dem Radfahren. Es gibt einen sozialen Druck zum Alkoholgenuss, dem man sich als Jugendlicher schwer entziehen kann, weil die Identität noch nicht so stark ausgeprägt ist.

derStandard.at: Was heißt das für die Eltern?

Kapusta: Die Eltern sind sehr gefordert, den Jugendlichen zu vermitteln, wie sie mit den Schwierigkeiten umgehen können. Wenn das elterliche Umfeld nicht in der Lage ist, diese Schwierigkeiten der Jugendlichen zu transformieren, dann suchen Jugendliche bei anderen Personen Halt und lernen eben von anderen, wie sie sich zurechtfinden können.

derStandard.at: Welche Rolle spielt dabei die Schule?

Kapusta: Lehrer thematisieren Sucht nicht zu wenig, können aber nur theoretische Grundlagen vermitteln. Eine sinnvolle Aufklärung darüber, wie Jugendliche mit ihren Problemen umgehen können, braucht intensive zwischenmenschliche Kontakte. Ein Lehrer kann nicht 30 Schüler emotional erziehen. Es würden viele gerne den Schulen die Schuld geben, da muss man aber die Lehrer im Dorf lassen. Die Verantwortung bleibt bei den Bezugspersonen.

derstandard.at: Würde eine Legalisierung von Alkohol etwas ändern?

Kapusta: Eine Aufhebung von Restriktion ist nicht zielführend. Genauso wenig wie ein stärkeres Verbot Verbesserungen zur Folge hätte. Die legalen Grenzen werden von Jugendlichen ohnehin regelmäßig überschritten. Außerdem kommen immer neue Substanzen auf den Markt, wie etwa synthetische Amphetamine, die in einem halblegalen Bereich konsumiert werden. Wenn die eine Substanz vom Markt verschwindet, dann kommt eine neue. Mit Restriktionspolitik alleine kann man längerfristig keine Suchtprävention machen.

deStandard.at: Was passiert, wenn Eltern Alkohol komplett verbieten?

Kapusta: Verbieten bringt wahrscheinlich nichts, weil die Suche der Jugendlichen zu sich selbst das Ausloten der Grenzen inkludiert. Das gehört wie sexuelle Erfahrungen zur Persönlichkeitsbildung. Ein Verbot der Eltern beinhaltet, dass man nicht mehr weiter darüber spricht. Erwachsene sollten aber gute Argumente bringen, warum ein moderater und seltener Alkoholkonsum gut ist und ständig mit ihren Kindern sprechen.

derStandard.at: Welche Folgen hat der Alkoholkonsum in der Pubertät?

Kapusta: In der Pubertät müssen Jugendliche ihr Verhalten verstehen, neu überdenken und neue Verhaltensweisen lernen. Sie müssen mit starken Gefühlen umgehen, das geht mit der Gehirnreifung einher. Wenn in dieser vulnerablen Zeit falsche Verhaltensweisen erlernt werden, dann fixiert sich das besonders, weil das Gehirn in der Zeit sehr lernbereit ist und viele Neuronen produziert. Diese werden durch Alkohol gehemmt. Neues psychosoziales Verhalten kann nicht erlernt werden, wenn die Zellen, die zum Erlernen von neuem Verhalten notwendig werden, sich nicht entwickeln können.

derstandard.at: Ist der Alkoholkonsum unter Jugendlichen in den letzten Jahren gestiegen?

Kapusta: Nein, der Missbrauch ist nicht höher als früher. Wir beobachten Trends bei psychoaktiven Substanzen, die verdeutlichen, dass alle psychoaktiven Substanzen zunehmend früher konsumiert werden. Einige Substanzen werden tatsächlich häufiger konsumiert, das sind aber nur vorübergehende Trends. Das "Komasaufen" etwa wurde kürzlich diskutiert, ist aber nicht neu. Auch einige unserer Eltern haben sich früher mit Alkohol intoxitiert. Es wird nur heute medial stärker diskutiert und bekommt mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Das animiert Jugendliche wieder, diesem Trend nachzugehen.

derStandard.at: Warum trinken Jugendliche immer früher?

Kapusta: Einerseits findet die psychosexuelle Entwicklung immer früher statt. Die sexuelle und damit die emotionale Reifung durch die Hormone beginnt früher, die Periode setzt bei Mädchen mittlerweile mit 11 Jahren ein. Das führt zur früheren biologisch bedingten Vulnerabilität. Andererseits gibt es auch soziale Ursachen. Es entsteht der Eindruck, als würden Bezugspersonen weniger Zeit für die Erziehung und Begleitung ihrer Jugendlichen haben, die daher entsprechend früher emotionale Schwierigkeiten entwickeln. Es gibt einen zunehmenden Bedarf an Kinder- und Jugendpsychiatern, weil Eltern zunehmend mit den emotionalen Störungen der Jugendlichen überfordert sind.

derStandard.at: Mehr Zeit bedeutet also eine höhere Qualität der Erziehung?

Kapusta: Es geht letztlich um die Beziehungsqualität, die nicht nur von der reinen Zeit, die man mit den Kindern verbringt, abhängt. Das Familienklima ist wichtig, in dem Jugendliche lernen, in Beziehungen zu leben und auf die Bedürfnisse anderer einzugehen, aber auch, dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Sie lernen im familiären Umfeld, dass es Regeln und Grenzen gibt. Einzelkinder erleben sich anders, etwa auch in der Schulklasse, als Kinder, die mit Geschwistern aufgewachsen sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder fürsorgliche Familienprozesse und Grenzen lernen ist in einer größeren Familie eben größer.

derStandard.at: Wenn also die Anzahl der Kinder in Familien, wie bisher, bei durchschnittlich einem Kind liegt, werden sich die Suchtprobleme bei Jugendlichen in Zukunft erhöhen? 

Kapusta: Mitunter, Ja. Abhängigkeitsprobleme haben viel mit Bindungsproblemen zu tun. In einer schnelllebigen Gesellschaft wird immer mehr Mobilität gefordert. Das heißt zugleich, dass Beziehungen und Bindungen zugunsten von Karriere oder intellektueller Entwicklung aufgegeben werden. Der Verlust von sozialem Denken ist ein gesellschaftliches Phänomen. Es wäre wichtig, dass nicht nur Kinder erleben können, dass sie Bedürfnisse nach Bindung und Beziehung haben und diese ausleben dürfen, sondern auch Eltern sich bewusst werden, dass sie diese Grundbedürfnisse ebenso haben. (derStandard.at, 31.10.2011)