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Zehn Jahre nach der Einführung des Euro ist die flammende Begeisterung Frust und Unmut gewichen: Protestfeuer der "Occupy"-Bewegung am "globalen Aktionstag."

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Seit kurzem liegt ein Vorschlag von Hugo Portisch auf dem Tisch, in den europäischen Schuldnerländern eine Art von "EU-Sektionschefs" zu installieren, die über die Ausgaben wachen sollen. Ich halte Portischs Vorschlag für brauchbarer als eine europäische Wirtschaftsregierung, wie sie von manchen Seiten auch schon vor dem Krisen-Gipfel immer wurde (vgl. S. 30). Und zwar nicht nur, weil in ihr wohl hauptsächlich Sarkozy und Merkel das Sagen hätten. Portischs Vorschlag ist auch deshalb besser, weil er um etliche Nummern kleiner und daher realistischer ist. Außerdem kommt er aus einem kleinen EU-Land und lässt keine Hegemonie-Ängste aufkommen. Ich glaube aber trotzdem, dass Europa etwas anderes dringender braucht: einen europäischen Sozialminister und ein europäisches Sozialbudget.

Die "Hausaufgaben" der europäischen Schuldnerländer bestehen derzeit bekanntlich im Sparen, Sparen und wieder Sparen und im Kürzen, Kürzen und noch einmal Kürzen, um solcherart das "Vertrauen" in die gemeinsame Währung wiederherzustellen.

Verdient denn der Dollar so viel mehr Vertrauen? Haben nicht die USA gigantische Staatsschulden und jede Menge faule Kredite und kann man nicht trotzdem jederzeit sein Nachtmahl oder sein Auto in Dollar bezahlen? Auch das britische Pfund existiert noch immer, trotz seiner zeitweise atemberaubenden Kursschwankungen. Und China macht der Welt dadurch zu schaffen, dass der Renminbi zwar an den Dollar gekoppelt, aber nicht "zu stark", sondern, im Gegenteil, "zu schwach" ist. Hatten Sarkozy und Merkel etwa die Schule geschwänzt, als der Lehrer den Unterschied zwischen einem Wertpapier und einem Zahlungsmittel erklärte? - Es ist schon seltsam, wie viel vom Vertrauen der Märkte die Rede ist und wie wenig vom Vertrauen der Wähler. Dabei sind die Rückzahlungspläne aller Schuldnerländer nur so viel wert wie das Vertrauen in ihre Regierungen.

Hugo Portisch erinnert daran, dass das zahlungsunfähige Österreich 1922 unter dem von seinen internationalen Kreditgebern auferlegten Sparzwang Tausende Staatsbedienstete entließ und Spitäler und Schulen zusperrte. Das erinnert fatal daran, was heute in Griechenland geschieht und morgen in Portugal oder Spanien geschehen kann.

Flucht nach vorn

Portisch ist aber auch der Ansicht, dass die sozialen Verwerfungen im Gefolge dieser Sparmaßnahmen mit zu den Ursachen des Bürgerkrieges von 1934 beitrugen. Welche Folgen die heutigen Beamtenentlassungen und Einschnitte in die sozialen Netze der Schuldnerstaaten noch nach sich ziehen können, ahnt man, wenn man die Bilder von den Ausschreitungen in Athen, Rom und London sieht. Das Gerede von den Hausaufgaben geht völlig daran vorbei, dass die Lasten, die Menschen zumutbar sind, Grenzen haben. Welche Unterschiede im Lebensstandard und in der sozialen Absicherung der Ärmeren ein Gebilde wie die EU gerade noch erträgt, sollte man besser nicht austesten. Daher ist Sparen und Kürzen bei Rüstungsausgaben und Prestigeprojekten angebracht, aber bei den Sozialausgaben ist es ein Spiel mit dem Feuer.

Möglicherweise wird in Europa bereits zu viel reguliert und harmonisiert. Doch wenn es einen Bereich gibt, in dem dies tatsächlich gerade jetzt angebracht ist und obendrein auch noch sehr schnell geschehen sollte, ist es die Sozialpolitik. Der Euro wird an den europäischen Staatsschulden genau so wenig zerbrechen wie der Dollar an den amerikanischen. Leider wurde bei seiner Einführung aber nicht bedacht, dass sich Länder, die mit der Produktivität nachhinken, noch stets mit der Abwertung ihrer Währung helfen konnten und dass es mit dem Eintritt in die Eurozone damit vorbei ist. Gunnar Myrdal hat in einer Studie am Beispiel des italienischen Mezzogiorno und der amerikanischen Südstaaten die dramatischen Folgen gezeigt, die blühenden Landschaften beim Eintritt in einen größeren, moderneren Wirtschaftsraum unter Umständen drohen.

Dies nicht erkannt zu haben, müssen sich die Euro-Euphoriker vorwerfen. Der Ausstieg aus dem Euro ist keine Alternative. Für die Schuldner und ihre Gläubiger bleibt nur die gemeinsame Flucht nach vorn. In schmerzhafte, riskante Anpassungsprozesse in einer Welt der schrumpfenden Marktnischen, in der die Märkte gesättigt werden statt der Menschen. Dieses Projekt kann misslingen. Wenn man die Schuldnerländer aber unter einen unbarmherzigen Sparzwang setzt und dabei das Abfedern der sozialen Folgen zu einer weiteren, unter diesen Umständen unlösbaren Hausaufgabe für sie macht, ist Scheitern programmiert.

Daher braucht Europa keine monströse Wirtschaftsregierung, die sich auf keinerlei Erfahrungen stützen könnte. Was Europa braucht, ist ein Sozialminister mit einem Sozialbudget, in das die Schuldnerländer einzahlen, soviel ihnen zuzumuten ist, und zu dem die Gläubigerländer so viel wie nötig zuschießen. Das ist gelebte Solidarität. Tut Europa das nicht, wird es mehr und mehr zur Solidargemeinschaft der Banken und Banken rettenden Politiker, für das immer mehr wütende Europäer es halten. (Hellmut Butterweck, DER STANDARD, Printausgabe, 29.10.2011)