Vor drei Jahren hat Timothy Garton Ash eine so provokante wie interessante These aufgestellt. Die entscheidende Frage im kommenden Jahrzehnt sei, welches von zwei derzeit erfolgreichen Wirtschaftssystemen sich durchsetzen werde: das europäische Modell, das seine Marktwirtschaft auf liberale Demokratie und sozialen Zusammenhalt ausrichtet; oder das chinesische, das System einer autoritär geführten Weltmacht, die der Macht und dem wirtschaftlichen Erfolg alles andere unterordnet.
Der angesehene britische Historiker ließ offen, was er für wahrscheinlich hält, sagte aber: Die Europäer werden sehr kämpfen, sich verändern müssen, damit ihr Kontinent nicht nur wohlhabend, sondern auch frei, tolerant und demokratisch bleiben könne.
Er sprach damit direkt das Problem an, dass die Nationalstaaten und die Union in ihrem Verhältnis zueinander kräftig werden nachbessern müssen, damit es für alle besser funktioniert. Das war Anfang 2009, kurz nach Ausbruch der globalen Bankenkrise. Die hat sich seither zur lebensgefährlichen Schuldenkrise der Euro- und EU-Staaten ausgewachsen.
Von einer breiten EU-Reform wollte damals niemand etwas wissen. Nicht die Regierungen, aber auch (noch) nicht jene, die sich heute mit dem französischen Rebellen und Autor Stéphane Hessel öffentlich gegen bestehende Strukturen empören. Irland blockierte damals den EU-Vertrag von Lissabon.
Inzwischen scheint sich die Stimmungslage zu verändern. Ashs Hinweise erlangen im Licht des soeben vereinbarten Ausbaus des Eurorettungsschirms in Billionenhöhe geradezu prophetische Qualität - nicht nur weil die Europäer bei Pekings Führung betteln (müssen), sie möge hunderte Milliarden an Rücklagen in Euro-Staatsanleihen investieren.
Es zeigt sich, dass die Entscheidungsmechanismen in der Union an die Grenzen des demokratisch noch Vertretbaren gestoßen sind. Quer durch den Kontinent streiten Bürger, Parlamente und Regierungen darüber: ob und welche Maßnahmen innerhalb der EU sinnvoll sind; ob man in der Krise stärker auf Europa setzen soll oder doch auf den Rückgriff zum Nationalstaat; ob die Regierungen, die jetzt mit einer gemeinsamen "Wirtschaftsregierung" tief in die Souveränität der Einzelstaaten eingreifen wollen, sich noch im Rahmen von Länderverfassungen und EU-Vertrag bewegten. Der Streit ist erst der Anfang.
Die klarste Antwort darauf hat erstaunlicherweise die mächtigste unter den EU-Regierungschefs, Angela Merkel, gegeben: Nein. Die Regelungen reichen nicht mehr aus. Sie drängt auf eine neue Reform der Unionsverträge.
Wie man das am besten angehen könnte, scheint weniger klar. Merkel strebt offenbar einen eng limitierten Reformprozess an. Die "EU-Wirtschaftsregierung" wäre de facto auf die Eurozone beschränkt. Die Kommission - Hüterin gemeinsamer Interessen - bekäme zwar mehr Einfluss;aber die reale Macht bliebe den Regierungen, die auch die Milliarden im Eurofonds verwalten. Die wichtige Kontrollfunktion des EU-Parlaments bliebe aus.
Als Zwischenlösung für das aktuelle Krisenmanagement wäre ein solcher schneller Umbau akzeptabel. Aber parallel dazu müsste schon 2012 eine umfassende Debatte zur großen EU-Reform gestartet werden, die vor allem die Rechte der Bürger und ihrer Parlamente auf eine ganz neue - und bessere - Basis stellt. Die Zeit dafür ist reif. Wir alle sollten von der Empörung zur Verfassung für Europa schreiten. (Thomas Mayer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.10.2011)