Die Sonne steht noch tief über der Steppe Kasachstans. Aber ihr Licht reicht aus, um den knallorangen Mi-8 an diesem Oktobermorgen gefährlich leuchten zu lassen. Rumpelnd beginnen sich die Triebwerke zu drehen. Die Rotoren rattern. Kerosingeruch kriecht in die Kabine. Dann hebt der große Helikopter leicht wie eine Feder ab. Hinter uns verschwindet Semipalatinsk unter Rauchschwaden, es geht nach Kurchatow - und dann direkt ins ehemalige Kernwaffentestgelände der Sowjetunion.
Es ist eine gottverlassene Ecke in Zentralasien. Gras, wohin das Auge reicht, ein paar Flüsse und hie und da eine heruntergekommene Siedlung. Noch vor 25 Jahren war diese Gegend in Ostkasachstan streng geheimes Sperrgebiet. 456 Atomtests mit mehr als 600 Explosionen führten die sowjetischen Nuklearwissenschafter in dem sogenannten Polygon durch. 1991, als sich die Sowjetunion bereits in Auflösung befand, wurde das Testgelände geschlossen - nach 42 Jahren und einem nuklearen Fallout, der in etwa dem von 20.000 Bomben von Hiroshima entspricht. Nursultan Nasarbajew, damals junger Parteisekretär und heute kasachischer Präsident, war die treibende Kraft dahinter. Heute sagt er: "Es war ein Sieg gegen das Böse."
"Keine Angst" , lächelt Sergej Lukaschenko, "hier gibt es zwar eine höhere Belastung, aber schwer verstrahlt ist dieser Teil nicht." Der stellvertretende Direktor des Nationalen Nuklearzentrums Kasachstans gibt sich Mühe, alle zu beruhigen, die aus dem Helikopter steigen und ihren Fuß auf das "Experimental Field" setzen. Hier, auf der sogenannten Technical Area P1, haben die Sowjets 1949 ihre erste Atombombe hochgehen lassen, und wenige Jahre später (in einem Testdesign des späteren Dissidenten Andrej Sacharow übrigens) ihre erste Wasserstoffbombe.
220.000 hoch Verstrahlte
In der Tat zeigen die Geigerzähler der bereitstehenden Soldaten an dieser Stelle keine besorgniserregende Strahlung an. Nur ein paar Steinwürfe weiter, Richtung Zentrum der Technical Area, ist das anders. Dort sind die Sprengsätze detoniert, dort wird alles noch auf Jahrzehnte hochkontaminiert sein. Während der jahrzehntelangen Testungen waren einige der insgesamt 220.000 betroffenen Menschen in der Region einer Strahlenbelastung von bis zu 2000 Millisievert ausgesetzt, stellte eine Studie kasachisch-japanischer Ärzte 2008 fest. Laut IAEO sind ab einem Wert von zehn Millisievert Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung zu ergreifen, 150 Millisievert gelten als Grenzwert für klinisch feststellbare Verstrahlungssymptome.
Duisenbay Kosschkarbekow wird später auf einer nordkoreanisch inspirierten Gedenkfeier zum 20. Jahrestag der Schließung, die das autoritäre Regime Nasarbajews in Semej ausrichten ließ, erzählen, wie er damals mit seinen Schafen auf einem Hügel saß und die aufsteigenden Atompilze beobachtete. Dutzende Male, so als wäre dies das Normalste auf der Welt gewesen. Den Staub, den er danach in Haare, Gesicht, auf Händen und Kleidung hatte, wusch er nur notdürftig ab, als er nach Hause lief und sich zum Essen setzte.
Vom Jahrgang des über und über mit Medaillen behangenen alten Mannes leben kaum noch welche, sagte er. Die Krebsrate ist enorm hoch in den Ortschaften um das Polygon. Genauso die Selbstmordrate, weil sich die Menschen vor dem Leiden fürchten, das sie bei Verwandten und Nachbarn täglich sehen. In der Gegend von Semej (so heißt Semipalatinsk heute) töten sich 40 von 10.000 Menschen, im Rest Kasachstans sind es nur zwei. Auch die nachgeborenen Kinder haben noch unter den Tests zu leiden. In der Region gibt es Gegenden, in denen noch immer die Hälfte aller Kinder mit einer Missbildung oder Behinderung zur Welt kommt. Viele der Versehrten kämpfen auch heute, im reichen Kasachstan, noch um Anerkennung als Opfer und um eine Rente.
Einen guten Teil des 18.000 Quadratkilometer großen Polygons hat die Nationale Nuklearbehörde heute wieder zur Beweidung und zum Abbau von Bodenschätzen freigegeben. Wie lange der Rest des sowjetischen Erbes noch strahlen wird, kann kaum jemand sagen. (Christoph Prantner, DER STANDARD-Printausgabe/Crossover, 31.10./1.11.2011)