"Massives gesellschaftliches Versagen" - Aufgang zum ehemaligen Kinderheim der Stadt Wien im Schloss Wilhelminenberg.

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Autor Michael Amon.

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Es wird langsam Zeit, sich schnell von der Vorstellung zu verabschieden, das Missbrauchsproblem drehe sich um einige verdruckste Pfarrer, ein paar hundert Opfer und sei mit ein bisserl Geld und der einen oder anderen Kommission zu lösen. Immer drängender stellt sich vielmehr die Frage, wovon wir sprechen: von ein paar Ausrutschern oder von einem System, das immanenter Bestandteil unserer Gesellschaft gewesen ist. Ebenso drängend die Frage: Wie konnte das vor aller Augen geschehen? Denn alle wussten, was in den Heimen läuft: Lehrer, Erzieher, die zuständigen Behörden und Ämter. Die Drohung "Wenn du nicht parierst, landest in Eggenburg!" war Erziehungsstandard der 1960er-Jahre. Die Verheißung des Paradieses war damit wohl nicht gemeint.

Wenn ich an die eigene Internatszeit denke: Wieso hat unsere Volksschullehrerin den Sadismus der Erzieherin nicht bemerkt? Warum hat sich dem prügelnden Internatsleiter niemand entgegenstellt? Unser Klassenvorstand - aufrechter, weltoffener Sozialdemokrat, später auch SP-Nationalrat, zu uns immer korrekt - hat nie mitbekommen, was sich im Internat abspielt?

Unhaltbare These

So viele Zuschauer, so viele Fragen. Erst 1968 brachen bei uns ein paar aufmüpfige Junglehrer das Schweigen und brachten das System erstmals ins Wanken.

Die anfängliche These, die sexuellen oder sexuell unterlegten Gewalttaten hätten ihre Wurzel vorwiegend im Zölibat, ist jedenfalls unhaltbar, denn sie waren Bestandteil aller Internatssysteme mit immer denselben Methoden: Aufessen von Erbrochenem; Prügel; sexuelle Demütigungen bis zum handgreiflichen Missbrauch; Bettnässern wird das uringetränkte Leintuch ins Gesicht gedrückt; als Sportausübung (1000 Kniebeugen) getarntes Menschenschinden. Schikanöse Sprechverbote werden zur Folter, einfaches Schuhputzen durch vielfache Wiederholung zur lustvoll zelebrierten Quälerei von Zöglingen. Noch die kleinste Abweichung von sinnlosen Normen - selbst schon eine Marter für sich - wird mit psychischer und physischer Folter geahndet: eine Falte im Leintuch, die Wäsche im Kasten nicht schnurgerade wie am Lineal ausgerichtet, zu langsames Gehen am Gang, zu schnelles Gehen am Gang. Jede Handlung kann zur Bestrafung führen. Es gibt keine Relation zwischen "Vergehen" und Strafmaß. Der einzige Maßstab sind die Launen der Erzieher. Was heute "nur" eine Ohrfeige nach sich zieht, artet morgen zur Prügelorgie aus. Attacken auf die körperliche Integrität der Heranwachsenden sind alltäglich: vom Puffercheck bis zum Kopf-gegen-die-Wand-Schmettern, vom Ohrenreiberl bis zum Fausthieb in den Magen.

Wieso haben die Eltern zugeschaut? Am Wilhelminenberg hatten sie zwar nichts zu melden, aber in die "normalen" Internate schickten einen die Eltern freiwillig. Die traurige Wahrheit: In den Familien ging es oft nicht viel besser zu. Die Väter hatten das Recht der körperlichen Züchtigung. Wer zu Hause die "gsunde Watschn" bekam, war noch gut bedient. Gewalttätige Väter gab es in großer Zahl und quer durch alle sozialen Schichten. Das Verständnis von Pädagogik verharrte im Wilhelminischen Zeitalter. Die Erzieher - entweder alte Nazis oder von solchen erzogen - waren autoritär gebrochene Charaktere und durften sich mit großen Teilen der Bevölkerung einig fühlen.

Regierungskommission ...

Wahrscheinlich wirkte auch die Verrohung durch zwei Weltkriege nach. Die Erziehung war durchmilitarisiert: "Spätestens beim Heer werden sie dir die Wadln 'virerichten'". Brutale Ausbildner beim Bundesheer setzten fort, was Elternhaus und Internate begonnen hatten. Gewalt in der Erziehung war alltäglich und strukturell - und somit Ausdruck von massivem gesellschaftlichem Versagen, mit dessen Folgen die so "Erzogenen" ihr Leben lang umgehen mussten. Manche schafften es, manche nicht. Unter meinen Mitzöglingen haben diese Jahre zumindest zweien das Leben gekostet. Ich weiß das, denn ich war mit ihnen über die Internatszeit hinaus befreundet. Einer starb weit vor der Zeit an "gebrochenem" Herzen, ein zweiter beging Selbstmord. Von den meisten weiß ich nicht, was aus ihnen geworden ist. Eine dunklere Dunkelziffer lässt sich kaum denken: Wir sprechen von zigtausenden Opfern dieses Systems. Ein paar unsystematisch vor sich hin werkelnde Kommissionen - das kann doch nicht alles gewesen sein!

Seit Jahren führen wir das große Wort von der "Aufarbeitung der Vergangenheit" im Mund. Bitte sehr, hier tut sich ein weites Feld auf, Zeit für Licht ins Dunkel! Soeben hat der in Jugendfragen zuständige Minister Mitterlehner zumindest eine Diskussion über eine Regierungskommission für Missbrauchsopfer gefordert. Frau Klasnic hat sich ihm angeschlossen. Man sollte beide beim Wort nehmen. Wie wäre es diesmal mit einer Kommission, von der man weiß, was sie tut? Kommissionen hätten wir genug: Klasnic, demnächst Helige, weiters eine Außenstelle des Weißen Ringes, dazu eine bislang geheime Historikerrunde für Wien. Wer kennt sich da noch aus? Nicht unbegründet ist der Verdacht, hier würden die Opfer mit einer "Wiedergutmachung" abgespeist, die nach einem missglückten (oder zumindest als unglücklich erfahrenen) Leben nichts "gutmachen" kann. Wir schulden den Opfern eine ordentliche Aufklärung der Vorgänge, nicht Kommissionen von denen man erst Jahre nach ihrer Gründung erfährt und deren genaue Aufgabe und Zusammensetzung man bis heute nicht kennt!

Es muss endlich Schluss sein mit dem unkoordinierten Kommissionsunwesen. Weg mit den vielen Gremien, eine einzige, bundesweite Kommission zum Thema Heim-"Erziehung" seit 1945 gehört her, ähnlich jener in Sachen Restitution, und eine klare Aufgabenstellung: Kataster aller Internatseinrichtungen in Österreich nach 1945; Auflistung aller Personen, die dort tätig waren, zentrales Melderegister für Betroffene bzw. Zöglinge; Katalogisierung aller "Erziehungs"-Methoden.

... statt Gremiensalat

Ziel dieser Kommission sollte erst in zweiter Linie die Entschädigung der Opfer sein - vorrangig wäre ein wissenschaftlich gesicherter Überblick über das System "Internat", die Feststellung einer plausiblen Opferzahl und - soweit möglich - die Erforschung der Ursachen und Folgen dieser Terrorherrschaft. Die Anforderungen einer solchen Forschungsarbeit verlangen eine breite Streuung der Fachkompetenzen und die Einbindung der Betroffenen - ohne deren Mitarbeit wird vieles nicht aufklärbar sein.

Ganz ohne Spuren wird diese "Erziehung" nicht geblieben sein. Diese zu finden und zu interpretieren wird mit Sicherheit Wertvolles zum Verständnis der Gemütslage unseres Landes beitragen, auch wenn der Blick zurück mit Gewissheit weitere Schrecklichkeiten offenbaren wird. Erst wenn die Systematik geklärt ist, kann man vernünftig über letztlich bescheidene finanzielle Gutmachungen sprechen. Verlorene Jahre kann man sowieso niemandem zurückgeben. (Michael Amon, DER STANDARD, Printausgabe, 31.10.2011)