Die Justizanstalt Stein bei Krems. Nach mehreren Übersiedlungen ist hier derzeit auch wieder Österreichs Rekordhäftling untergebracht. Vor Jahren hatte er die Haftbedingungen angeprangert. Nun kämpft er gegen Gutachten, die seine Entlassung verhindern.

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Juan Carlos Chmelir, der in Österreich am längsten einsitzende Häftling.

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Wien - So richtig glücklich war Juan Carlos Chmelir zuletzt im Mai 1962, da war er 13 Jahre alt. Damals im Juni zog die Familie von Uruguay nach Österreich. "Ab dann war mein Leben fürchterlich", sagt er. "Ich habe es mir zerstört." In Wien überfiel Chmelir eine Postfiliale, erschoss dabei einen Mann und verwundete einen zweiten schwer. Er brach aus dem Gefängnis aus, entführte eine Frau und vergewaltigte sie über drei Tage fünfmal - viermal "bis zum Samenerguss", wie es in der Zeugenaussage des Opfers heißt. Einmal hörte er bereits vorher auf.

Heute ist Chmelir 63 und sitzt seit 34 Jahren in Haft, länger als jeder andere Straftäter in Österreich. Zwei Gutachten bescheinigen ihm, dass er immer noch gefährlich ist. Bald steht er wieder einmal vor Gericht. Er hat die Republik auf 320.000 Euro Schadenersatz geklagt, weil sie ihn nicht mehr aus dem Gefängnis lasse.

"Ich bin kein Unschuldslamm"

Journalisten dürfen Chmelir zwar in der Justizanstalt Stein besuchen, schreiben dürfen sie aber nicht darüber. Wer ihn zitieren will, muss mit ihm telefonieren. "Doppelmörder, Kinderschänder, alle kommen sie raus, nur ich nicht", sagt Chmelir dann. "Ich bin kein Unschuldslamm. Aber ich habe für meine Taten gebüßt und mich verändert."

Nach dem Postraub 1978 wurde Chmelir zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Entführung und Vergewaltigung 1989 brachte im weitere 18 Jahre ein, diese Strafe hat er seit zwei Jahren eigentlich abgesessen. Chmelir ist überzeugt, dass die Behörden ihn absichtlich "jahrelang auf einem Minimum verwaltet" haben - weil er politisch unbequem war. Mehrere Male wurde er verlegt, kennt also einige Justizhaftanstalten.

Wer in Österreich zu lebenslanger Haft verurteilt wird, sitzt im Durchschnitt 17 Jahre ab. Auch Chmelir wäre schon frei, wenn er sich anders verhalten hätte, sagen manche Justizbeamte.

Sitzstreik am Dach

1983 klettere Chmelir aufs Dach der Justizanstalt Graz Karlau und blieb dort zwei Tage sitzen - aus Protest gegen die schlechten Haftbedingungen. 1992 spielte er dem Profil ein Tonband zu, auf dem er vom schrecklichen Alltag und Misshandlungen in Stein erzählte. "Stein ist die Hölle", titelte das Magazin und warnte vor einer Häftlingsrevolte. Bis heute ist Chmelir stolz darauf.

Immer wieder stellte er Ansuchen um vorzeitige Entlassung, zuletzt 2010 - immer wieder wurden sie abgelehnt. Er habe keine Resozialisierungsmaßnahmen bekommen, begründeten die Richter ihre Entscheidung. Stimmt, sagt Chmelir. Aber nicht, weil er sie nicht wollte. Regelmäßig bat er um Therapie und Betreuung. Trotzdem sei sie ihm 15 Jahre lang verweigert worden.

Anfechten der psychiatrischen Gutachten

Auch die beiden Gutachten über seinen Geisteszustand will Chmelir anfechten. Das erste erstellte der renommierte Psychiater Friedrich Haller 2007, das zweite fertigte der Psychologe Werner Brosch 2011 an. "Katastrophal", nennt Chmelir sie beide, die Ärzte würden irren. Der Psychologe und Gerichtsgutachter Klaus Burtscher gibt ihm recht.

Brosch habe Chmelir eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert - ein Krankheitsbild, das es ab 2013 gar nicht mehr gibt, sagt Burtscher. Dann erscheint die neue Ausgabe jenes Buchs, in dem die US-amerikanische Psychiatrie-Gesellschaft geistige Störungen beschreibt - die narzisstische Persönlichkeitsstörung wird darin nicht mehr enthalten sein.

Beide Gutachter hätten veraltete Tests benutzt und mit Chmelir keine systematischen Interviews geführt. Die seien aber nötig, um eine multiple Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, sagt Burtscher. Hallers Gutachten bezeichnete er 2010 sogar als "Kunstfehler", Haller klagte. Das Verfahren ist immer noch anhängig.

Beziehung im Gefängnis

Sollte Chmelir mit seiner eigenen Klage Erfolg haben, will er die 320. 000 Euro den SOS-Kinderdörfern spenden. Ihm gehe es nicht ums Geld, sondern um seine letzten Jahre in Freiheit, sagt er. Die will er mit seiner Lebensgefährtin verbringen. Sie lernten sich 1978 kennen, zwei Monate, bevor Chmelir ins Gefängnis ging. Bis heute kommt sie ihn wöchentlich besuchen.

"Die Schlüssel sind aber immer hinter dir, dieses Rascheln und Klimpern", sagt Chmelir. Seine größte Angst sei es, im Gefängnis zu sterben. Vor einigen Wochen wurde er verlegt, in den Entlassungsvollzug, in dem Häftlinge auf ihren Freigang vorbereitet werden - manchmal viele Jahre lang. (Tobias Müller, DER STANDARD, Printausgabe, 2.11.2011)