Wien - Plötzlich verschwindet der Drang nach Luft und mit ihm die Angst vor dem Ersticken. Man lässt los und taucht unter. Jeglicher Gedanke löst sich unter Wasser auf, alles wird friedlich und schwerelos. So erzählt es Martin Mühlbauer, einer der besten österreichischen Apnoetaucher. Einer, der unter Wasser knapp sechs Minuten ohne Luft auskommt. Einer, der mit einem Atemzug und einer Monoflosse 156 Meter weit tauchen kann und damit noch immer 117 Meter vom aktuellen Weltrekord des Kroaten Goran Colak entfernt ist. Beide Taucher werden am Sonntag im Bundessportzentrum Südstadt an der Österreichischen Meisterschaft im Apnoetauchen teilnehmen. Erwartet werden insgesamt 30 SportlerInnen, die sich in den Disziplinen Zeit- und Streckentauchen messen.
Ein professionelles Kinderspiel
Der 24-jährige Mühlbauer gehörte zu jenen Kindern, die nicht aus dem Schwimmbad zu kriegen waren. Wer kann am längsten unter Wasser bleiben? Wer kann am weitesten tauchen? Der Wiener hat nie aufgehört zu spielen, betreibt den Wettkampf seit vier Jahren aber unter professionellen Bedingungen. Vor Bewerben trainiert er zwei bis drei Wochen intensiv, hüpft vier Mal in der Woche ins Pool, stärkt Kraft und Ausdauer. Von seiner Leistungsfähigkeit und deren Steigerung ist er selbst ein wenig überrascht, er habe sich im Wasser zwar immer sehr wohl gefühlt und viel von anderen gelernt, sein Lungenvolumen sei ursprünglich aber völlig normal gewesen. Vor eineinhalb Jahren reichte es im Streckentauchen mit Monoflosse zu knapp hundert Metern, nun scheint auch der nationale Rekord von Herbert Nitsch in Reichweite. Die österreichische Tauchsportlegende legte einst 183 Meter zurück, damals ein Weltrekord. "Am Sonntag will ich näher zu Herbert aufrücken", sagt Mühlbauer voller Selbstvertrauen. Obwohl er noch einiges vorhat, sei es derzeit aber kaum möglich, die eigenen Grenzen zu erahnen.
Nitsch konzentriert sich mittlerweile auf das Tieftauchen, sein Steckenpferd heißt "No Limit". In dieser Disziplin gibt es keine technischen Beschränkungen, der Taucher wird per Schlitten in die Tiefe gezogen. Ab fünfzig Meter wird die Lunge auf Faustgröße zusammengequetscht. Der Weltrekord von Nitsch steht auf 214. Aber der Mensch will mehr, er denkt bereits an 300 Meter. Das ist Wahnsinn, schreit nun der Laie auf. "Das ist durchaus vorstellbar", sagt Experte Mühlbauer. Und fügt die Erklärung gleich hinzu: "Es geht hauptsächlich um den Druckausgleich. Umso tiefer Du gehst, umso kleiner werden die Druckunterschiede. Von null auf zehn Meter müssen die Ohren drei bis vier Mal ausgeglichen werden. Von 214 auf 300 Meter vielleicht ein einziges Mal." Die Herausforderung sieht Mühlbauer weniger bei den Fähigkeiten des Ausnahmesportlers als in der technischen Umsetzung des Projekts: "Man muss den Tauchgang in vier bis fünf Minuten unterbringen. Der Schlitten muss es können, der muss verdammt schnell sein. Nitsch kann es auf jeden Fall. Er ist sehr realistisch, überlegt sich jeden Schritt hundert Mal und geht kein unnötiges Risiko ein."
Die Gefahr des Blackouts
Die Technik kann im Tieftauchen über Leben und Tod entscheiden. Die französische Weltrekordhalterin Audrey Mestre-Ferreras verstarb 2002, weil der luftgefüllte Ballon, der den Aufstieg sicherstellen sollte, nach wenigen Metern hängenblieb. In solchen Tiefen ist der Spielraum für Fehler begrenzt, obwohl die Rettungskette laut Mühlbauer mittlerweile sehr ausgefeilt ist. Werden alle Sicherheitsregeln eingehalten und überschätzt sich der Taucher nicht maßlos, ist "ein Blackout das Schlimmste, was ihm passieren kann. Der Körper schaltet ein paar Sekunden ab und macht dann einen Neustart: Das Bewusstsein wird ausgeschalten, damit die Atmung wieder einsetzen kann." In anderen Worten: "Der Körper sagt, hör jetzt bitte auf mit dem Blödsinn." Aber natürlich ist es auch der Aspekt der Gefahr, der das Tieftauchen in der öffentlichen Wahrnehmung in den Vordergrund drängt. Zeit- und Streckentauchen liefern weniger spektakuläre Bilder als der Tiefenrausch der Apnoetaucher. Dass Mühlbauer bisher die Poolbewerbe vorzog, hat pragmatische Gründe. Einerseits fehlt in Österreich das Meer zum trainieren, andererseits können die heimischen Seen ungemütlich kalt und finster werden. In der Tat ist das Tieftauchen hierzulande eher unüblich.
Natürlich geht auch Mühlbauer im Urlaub in die Tiefe, dem sportlichen Wettbewerb stellt er sich vorerst aber nur im Becken. Seine Stärke liegt dabei im Streckentauchen mit Monoflosse. In dieser Disziplin kann er seine gute Technik ausspielen. Ökonomische Bewegungen sind gefragt, man schlägt zwei Mal und lässt sich dann gleiten. Das Zeittauchen, hier treibt man regungslos an der Oberfläche, erfordert wiederum mentale Stärke: die Athleten arbeiten mit autogenem Training, Meditation und Selbsthypnose. Man muss sich aller Gedanken entledigen können, um "in ein tiefes Schwarz zu fallen". Und warum trägt man den Bewerb des Luftanhaltens nicht einfach im Trockenen aus? "Weil man im Wasser entspannter ist, man lässt jeden Muskel komplett locker. Zudem reagiert der Körper auf Wasser. Der Tauchreflex lässt ihn sofort runterfahren und den Sauerstoffverbrauch auf die überlebenswichtigen Organe reduzieren." Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Taucher den letztmöglichen Zeitpunkt des Auftauchens verpasst, ist eher gering. Instinktiv, so Mühlbauer, würden die meisten Sportler ihre Versuche eher zu früh beenden. Die Grenze exakt zu treffen, sei sehr schwierig und eine der großen Herausforderungen, der Weltrekord des Franzosen Stephane Mifsud von 11 Minuten und 35 Sekunden aber ohnehin nur sehr schwer zu erreichen.
Passwort: "I'm okay"
Wenn am Sonntag die österreichischen Meisterschaften in der Südstadt ausgetragen werden, ist von einer freundschaftlichen Atmosphäre auszugehen. Zu eng ist der Kreis der Aktiven, um ernsthaftes Konkurrenzverhalten an den Tag zu legen. Es steht kein Geld auf dem Spiel, dafür die Freude an der gemeinsamen Leidenschaft im Vordergrund. Dennoch werden und müssen alle mit dem gebotenen Ernst bei der Sache sein. Ausgebildete Sicherheitskräfte und Ärzte vor Ort gehören ebenso zum Pflichtprogramm wie das Surface-Protokoll. Jeder Sportler muss nach dem Auftauchen innerhalb von 15 Sekunden Brille und Nasenclip vom Gesicht nehmen, dem Schiedsrichter ein Okay-Handzeichen geben und anschließend "I'm okay" sagen. Auf diesem Weg soll sichergestellt werden, dass der Taucher noch bei Sinnen ist. Wer das nicht schafft, wird disqualifiziert und versorgt. Hat jemand vor einen Weltrekord zu brechen, muss er die 500 Euro für den zu erbringenden Dopingtest selber aufbringen. Die österreichischen Taucher kommen dafür am Sonntag nicht in Frage, der Kroate Goran Colak schon eher.
Wenn Mühlbauer im Urlaub in dreißig Metern Tiefe auf Gerätetaucher trifft, kann es schon passieren, dass er leicht verdutzte Blicke erntet. Für ihn ist es jedoch das höchste der Gefühle, an einem Riff entlang in die Tiefe zu fallen. Auch als begeisterter Unterwasser-Fotograf kann er von seinen Fähigkeiten profitieren: "Wenn man sich in Apnoe dreißig Sekunden still auf den Meeresgrund legt, kommt alles, was lebt aus dem Riff heraus. Die Luftblasen fallen weg, die Fische akzeptieren dich als Teil der Natur." Dabei wird der Schlag des Herzens immer langsamer, man gerät in den "Rausch der Tiefe". Wie im gleichnamigen Streifen von Luc Besson, dem Stammfilm der Freitaucher, der vielleicht besten Werbung für den Apnoesport überhaupt. Einfach Luft anhalten und runter, unverkrampft und sorglos. Denn eine Nachricht gibt Mühlbauer den Interessierten noch mit auf den Weg: "Man vermisst nichts beim Nichtatmen." (derStandard.at; 3. November 2011)