Neandertaler auf der Suche nach "Bieldung": Irritations-PR des Volksbegehrens Bildungsinitiative in der Wiener Innenstadt. - Steht es wirklich so schlecht um unser Bildungssystem?

Foto: STANDARD/Pessenlehner

Lieber Bernd! Fast täglich wird in unseren Zeitungen ein Klagelied darüber angestimmt, dass die Regierungsparteien darin Meister sind, der FPÖ Wähler zuzutreiben. Im Standard vom letzten Samstag stimmst Du ein neues Klagelied mit einem höchst originellen Text an. Du wirfst Michael Spindelegger vor, als Grundlage für sein Nein zur Gesamtschule eine ihm vorliegende Umfrage zu verwenden, die der ÖVP im Fall eines Ja massenhafte Abwanderungen ihrer Klientel zur FPÖ prophezeit.

Ich kenne diese Umfrage zwar nicht, aber seit die Hamburger CDU in der gleichen Frage ihrem grünen Koalitionspartner zuliebe nicht nur wie die ÖVP gewackelt hat, sondern gesprungen und damit schnurstracks in das größte Wahldebakel ihrer Geschichte geschlittert ist, scheint sie mir sehr glaubhaft. In bürgerlichen Kreisen lösen Schulfragen mehr Emotionen aus als die Frage des Grenzsteuersatzes.

Dass sich die FPÖ als stramme Verteidigerin des Gymnasiums geriert hat, obwohl ihre Grundhaltung von gymnasialen Bildungszielen so weit entfernt ist wie die Erde vom Mond, hätte eigentlich schon alle Alarmglocken schrillen lassen müssen.

Verdient die Gesamtschule ...

Nun bist Du offenbar der Meinung, dass eine verantwortungsbewusste ÖVP verpflichtet wäre, ihre eigene Zukunft um der Zukunft unseres Landes willen aufs Spiel zu setzen. Seit ich als junger Student in der Burg Oskar Werner in Becket oder Die Ehre Gottes gesehen habe, habe ich ein Faible für Menschen, die für ihre Ideale ihre Interessen opfern. Aber verdient die Gesamtschule, zu einem Ideal der ÖVP zu werden?

Du führst die internationalen Pisa-Ergebnisse ins Treffen. Die geben aber wenig her, zumal die Ergebnisse unterschiedlicher und daher interpretationsresistenter nicht sein könnten. In Finnland funktioniert das Schulsystem samt Gesamtschule super, und die polnischen Ergebnisse sind auch erfreulich. Schweden ist trotz oder wegen seiner Gesamtschule im freien Pisa-Fall und liegt derzeit auf dem beklagenswerten österreichischen Niveau. Wobei wir uns auch über die Jahre in einem fast freien Fall bewegt haben. Beide Länder haben in ihrer Fall-Phase ihre Schulorganisation nicht geändert. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass die Organisationsform nicht der entscheidende Erfolgsfaktor ist?

Deutschland ist knapp überdurchschnittlich. Aber auch das nur, weil die beiden Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg, die keine Gesamtschule haben, das Gesamtergebnis deutlich nach oben ziehen. Die Schweiz kennt in der Mehrheit ihrer Kantone keine Gesamtschule und zählt trotzdem zur europäischen Pisa-Spitze. Dass sie ebenso wie Bayern und Baden-Württemberg zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern zählt, passt ins Bild. Schließlich haben wir schon in der Schule gelernt, dass wir nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen. In Baden-Württemberg macht die Regierung übrigens ohne Gesamtschule etwas sehr Sinnvolles. Sie nimmt viel Geld in die Hand, um Migrantenkindern nicht nur einen Schnellsiedekurs in Deutsch zu verpassen, sondern sie viel massiver zu fördern.

Vor ein paar Monaten hat die Robert-Bosch-Stiftung eine Gesamtschule in Göttingen zur besten Schule Deutschlands gekürt. Chapeau! Zumal ja die Juroren der Stiftung nicht im Verdacht stehen, leistungsfeindliche Alt-Achtundsechziger zu sein. Aber bevor Du wie die Drei Damen in der Zauberflöte ein "Triumph, Triumph" anstimmst, empfehle ich Dir, das Interview zu lesen, das die Hamburger Zeit unlängst mit dem Direktor dieser Schule geführt hat. Erstens ist diese Schule keine Gesamtschule im klassischen Sinn, weil sie keine gemeinsame Schule für die Sechs- bis Vierzehnjährigen, sondern eine Schule der Zehn- bis Achtzehnjährigen ist. Wichtiger ist, dass es für die Zehnjährigen zwar keine formalen Aufnahmekriterien gibt, aber die Schule sehr darauf achtet, dass unter den Neuzugängen mehr als vier Fünftel eine klare Gymnasialempfehlung ihrer Volksschule mitbringen.

Die Erklärung ist einleuchtend. Stärkere Schüler sind sehr wohl imstande, ihre schwächeren Kameraden mit auf die intellektuelle Reise zu nehmen, aber nur dann, wenn die besseren Schüler deutlich in der Überzahl sind. Je ausgeglichener das Verhältnis, umso zweifelhafter der Lernerfolg von allen. Daher würde er auch in großstädtischen Ballungsgebieten wenig Erfolgschancen für sein Modell sehen. Und nichts würde gehen, wenn er nicht speziell ausgesuchte und motivierte Lehrer hätte. Übrigens stellen an keiner Schule Deutschlands mehr den Antrag, von einer Zwangspensionierung mit fünfundsechzig dispensiert zu werden. Kurt Ostbahn würde sagen: "So schaut's aus!"

... zum ÖVP-Ideal zu werden?

Dein oberster Kriegsherr in Sachen Bildungsvolksbegehren, Hannes Androsch, hat in den letzten Monaten alles versucht, um die Forderung nach einer Gesamtschule hinter einem potemkinsches Dorf von Abschwächungen und Beschwichtigungen zu verstecken. Mit Deinem Artikel hast Du als sein Generaladjutant aus welchen Gründen immer diese Camouflage beiseite geschoben, um den Blick auf die zentrale Forderung Eures Begehrens freizumachen. - Für Deine wohltuende Ehrlichkeit sage ich Dir aufrichtigen Dank. Dein Bernhard (Bernhard Görg, DER STANDARD, Printausgabe, 4.11.2011)