"Die Essenz des Kinos ist das menschliche Gesicht": Der kanadische Regisseur David Cronenberg.

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Keira Knightley als Sabina Spielrein in "A Dangerous Method", Michael Fassbender verkörpert Carl Jung.

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STANDARD: Fast alle Ihre Filme haben einen Freud'schen Touch - ich denke besonders an "Videodrome" oder "Crash", die voller Symptome sind. Welcher Art ist Ihre Beziehung zu Freud?

Cronenberg: Freud hatte einen riesigen Einfluss auf das 20. Jahrhundert, er hat mitbestimmt, wie wir heute denken, egal, ob es um Traumdeutung geht oder um die Idee eines Unbewussten, das uns seltsame Dinge tun lässt. Meine Beziehung zu Freud geht darüber, fürchte ich, nicht weit hinaus - es ist nicht so wie bei Dali, der sich für seine Kunst mit Freud'schen Techniken beschäftigt hat, oder wie bei Bertolucci, der die Psychoanalyse für seine Filme nutzt. Aber ein Künstler und ein Psychoanalytiker tun in gewisser Weise ähnliche Dinge: Es gibt eine Oberfläche der Realität, die akzeptiert wird, und die Dinge darunter, die man erforschen muss, um herauszufinden, was wirklich los ist. Um die menschliche Verfassung zu verstehen, muss man tiefer gehen, die versteckte Welt betrachten.

STANDARD: Die Wirklichkeit Ihrer Filme ist dabei stets die des menschlichen Körpers.

Cronenberg: Die Betonung des Körpers ist wohl meine direkteste Verbindung zu Freud. Der Körper ist unsere Realität, der wir nicht entfliehen können. Bei den Unterschieden zwischen Freud und Jung denkt jeder sofort an Sexualität, was Jung als Erklärungsmodell abgelehnt hat. Ich denke jedoch, Freud hat einfach auf der Realität des menschlichen Körpers insistiert. Er sprach zwar viel über Vaginen und Penisse, über Exkremente und sexuelles Verhalten - aber all das ist Körper. Für die Menschen damals war das abstoßend. Auch Jung wollte lieber über Spiritualität, über die Seele nachdenken - deshalb wurde Jungs Denken immer mehr zur Religion. Freud war Atheist: Wenn man den Körper als Realität akzeptiert, weiß man, dass man tot ist, wenn der Körper stirbt. Das teile ich mit Freud.

STANDARD: Als Sie nun Christopher Hamptons Stück, die Vorlage des Films, lasen: Worin lag die besondere Faszination für Sie - es handelt sich ja um Ihren ersten Film, der auf realen Personen basiert?

Cronenberg: Ich wollte diese Periode ins Leben zurückrufen - wie als magischen Prozess. Wie macht man das? Es bedeutet, dass man möglichst sachlich vorgehen muss. Ich hatte keine politische Agenda, um zu sagen, Freud oder Jung war besser, oder Sabina Spielrein eine feministische Vordenkerin. Wenn ich den realen Figuren entsprechen will, ihre Sprache, ihr Denken reaktivieren will, dann muss ich sie das tun lassen, was sie wirklich getan haben.

STANDARD: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Cronenberg: Ich wollte etwa zeigen, dass es sich um eine Ära des Briefschreibens gehandelt hat. Die Post wurde in Wien damals fünf- bis achtmal am Tag ausgeliefert. Man konnte in der Früh einen Brief schreiben und erhielt am Nachmittag bereits eine Antwort. Freud und Jung waren nachgerade obsessiv an Details interessierte Menschen, und so schrieben sie dann auch. Über das, worüber sie sich unterhielten, und wie die Reaktionen darauf waren, gibt es viele Materialien.

STANDARD: "A Dangerous Method" scheint, gegen die gängige Tendenz des Kostümfilms inszeniert, in Ausstattung zu schwelgen. Wie kam es zu diesem Stil?

Cronenberg: Die Schriften Freuds haben mich dazu inspiriert. Er schreibt sachlich, kühl, ausbalanciert - diesen Tonfall wollte ich übernehmen. Freud und Jung sind alles andere als hysterisch in der Art, wie sie sich mit Hysterie befassen. Die Geschichte des Films ist so kraftvoll, dass ich nichts überspannen musste. Es ist ironisch, dass Leute von den ersten Szenen mit Keira Knightley so irritiert sind - sie ist darin hysterisch, doch der Blick des Films auf sie bleibt nüchtern. So wie jener von Jung, der hinter ihr sitzt und nachdenkt, er reagiert nicht auf sie, sondern beobachtet sie. Ich wollte richtige Emotionen ermöglichen, keine falschen, sentimentalen.

STANDARD: Haben Sie über das Verhältnis zwischen Freud, Jung und Spielrein je als freudianisches nachgedacht: Ich, Es, Über-Ich?

Cronenberg: Ich glaube, das haben sie sogar selbst getan. Jung sagte über Freud, er sei seine Vaterfigur. Sie gingen mit den Begriffen sehr offensiv um. Die Idee der Libido, des Vatermords, das väterliche Begehren, den Sohn zu unterdrücken - sie dachten: "Schauen wir mal, wie das in unserem Verhältnis zueinander funktioniert!" Sie hatten keine Angst, mit diesen Begriffen zu arbeiten - ich tue es nicht, sondern lasse sie das tun.

STANDARD: Spielrein und Jung unterdrücken ihre Liebe zueinander - in diesem Sinne bleibt der Film genregerecht.

Cronenberg: Es geht um Menschen, die als Wissenschafter ernst genommen werden wollten. Sie beobachten, sie evaluieren - egal, wie hoch die Emotionen gehen. Man darf keine Gefühle zulassen. Das wollte ich auch formal betonen: Ich mag außerdem keine Filme, in denen sich die Kamera ständig bewegt - da werde ich nur seekrank. Ich hatte auch niemals Angst davor, mich am Gesicht zu orientieren, schon als ich anfing. Das Gesicht ist faszinierend - Kinder und Babys können den Gesichtern ihrer Eltern stundenlang zuschauen; was wiederum ziemlich freudianisch ist. Die Essenz des Kinos ist das menschliche Gesicht.

STANDARD: Die Beziehung machen Sie im Sexuellen sehr explizit, in Spielreins Texten finden sich nur Andeutungen ...

Cronenberg: Spielrein war natürlich eine Frau ihrer Ära, es wäre vulgär und krude gewesen, davon direkt zu sprechen. Aber sie schrieb, dass sie Jung ihre Unschuld gab ...

STANDARD: Und das Spanking?

Cronenberg: Das Spanking? Okay. Ich sagte Keira, ich glaube, da gibt es noch ein anderes Element. Man weiß von Spielreins Sadomasochismus, dass sie Lust verspürte, wenn sie ihr Vater schlug. Ich hatte das Gefühl, dass dies Jung zu ihr hinzog - er fand es aufregend, dass sie zu diesen Perversionen fähig war, ohne dass er deswegen ein Sadist sein musste. Im Film sieht man, dass Jung diese Szenen nicht unbedingt genießt, er ist ein wenig verstört - umgekehrt dachte er wohl: Warum soll man ihr diese Lust vorenthalten, sie tut niemandem weh. Das war auch ein Weg, sie heilen zu helfen. Wir haben dafür natürlich keine Beweise. Es ist meine Erfindung.

STANDARD: Interessant daran ist auch, dass die beiden ihr Wissen vergrößern, indem sie transgressiv agieren.

Cronenberg: Richtig, und Sabina treibt es noch ein Stück weiter. Sie greift die Idee von Wagners Siegfried und des Inzests auf, sie wollte schwanger werden und Siegfried zur Geburt verhelfen. Freud wusste das und sagte ihr, ihre Idee eines blonden arischen Siegfrieds sei eine Verblendung. Es kann nicht geschehen, weil sie wie er jüdisch ist.

STANDARD: Ist diese Reflexion von jüdischer Identität etwas, das für Sie wichtiger geworden ist?

Cronenberg: Es interessiert mich, ich kann mich zu Freud, der ein liberaler humanistischer Jude und Atheist war, in Beziehung setzen. Freud kannte die Rituale der jüdischen Religion, ohne religiös zu sein. Ich bin ein nordamerikanischer atheistischer Jude - was auch immer das genau ist. Ich war auch immer an Einsteins Verständnis vom Judentum interessiert. Oder an jenem von Marx. Aber es ist keine Obsession, wenn Sie das meinen ...

STANDARD: Wie hat das freudianische Wien auf Sie gewirkt?

Cronenberg: Mich hat überrascht, wie monumental es ist. Man weiß, Paris war Teil eines Imperiums; Wien hat den gleichen Effekt: Die Stadt eines Großreichs, von Menschen, die sich als dessen Bürger verstanden. Nachdem es eine deutsch-kanadische Produktion war, durften wir außerhalb Deutschlands nicht viel drehen. Für mich war Wien aber wichtig: Nichts konnte das Belvedere ersetzen, das Café Sperl, Freuds Apartment, dessen Eingangsbereich: Meine Schauspieler sollten dieselben Stufen nehmen wie einst Freud. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 5./6. November 2011)