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Lottmann: Ich frage mich, warum keiner zugibt, wie unbefriedigend und antihumanistisch so ein Verdrängungssystem ist.

Foto: REUTERS/Marcelo Del Pozo

Am nächsten Morgen diese wahnsinnige Zerstörung im Gehirn. Von Joachim Lottmann

Ich werde es kurz machen. Kurze Sätze, für etwas, das zutiefst banal ist, auch wenn außer mir noch keiner es gesagt hat: Nachtleben ist unlustig. Ein Synonym für Depression. Ein Stress wie Weihnachten, nur viel öfter. So war es auch früher schon. In der Jugend. Da war es noch schlimmer. Aber der Reihe nach, und schön analytisch. Kein Spaßtext, sondern ein ernster. Dass das Nachtleben, auch Ausgehen genannt geil ist, versteht sich angeblich von selbst. Dies anzuzweifeln hieße ein Tabu brechen. Als würde man einen Kollegen fragen, ob es ihm im Bordell gefallen habe. Natürlich hat es ihm nicht gefallen. Es war todtraurig, grauenvoll, und natürlich war er impotent. Aber das aussprechen? Niemals.

Aber das öffentliche Saufen ist immer schon traurig gewesen. Kein Vergleich zu den Treffen unter Freunden in Wohnungen. Ich will mit meinem ersten Freund beginnen, Christoph Mayr. Vier Jahre lang gingen wir gemeinsam nach der Schule nach Hause, wobei wir uns unterhielten. Waren wir bei dem einen angekommen, gingen wir zusammen wieder zurück, zur anderen Wohnung. Immer hin und her, bis das Mittagessen kalt geworden war. Erst das Gymnasium konnte uns trennen. Ich wechselte zum Johanneum, er blieb in der Hauptschule. Eine schöne Zeit, ganz ohne Alkohol.

Der kam dann in der Pubertät. Die ungeschlachten Burschen begannen zu trinken. Meine Clique gehörte nicht dazu. Wir tranken Tee und schmusten auf Matratzen. Wir waren drei Mädchen und ein Junge, später vier Mädchen und drei Jungen. Wir hatten uns so wahnsinnig viel zu sagen, und das ging nur bei leiser Pink-FloydMusik, nicht im Lärm einer Gaststätte. Wir kamen gar nicht auf den Gedanken, freiwillig im Orkus einer brüllend lauten Kneipe unterzugehen. Ehe hätte man Elfriede Jelinek dazu gebracht, in Oslo den Nobelpreis abzuholen, trotz Soziophobie, als mich dazu, in einem Club auszuhalten.

Wir wollten immer reden. Schließlich lebte man in Hamburg. Da ist es fast so dunkel wie in Island. Menschen stecken die Köpfe zusammen und reden. Früher beteten sie, heute beschwört man Umwelt, Politik, Erziehung, Gefühle, Gott, Kunst, Sexualität, Neonazis und so weiter. Am besten bei Kerzenschein. Ich will nur sagen, das ist sowieso schon so, und in der Pubertät erst recht. Ich trat mit 13 einer Basisgruppe bei. Dort las man Proudhon, Kropotkin, Marx, Engels und Ernest Mandel. Dort war nicht einmal Pink Floyd erlaubt. In die Disco ging nur der bewusstlose Klassenfeind. Auch Baader und Meinhof dröhnten sich nicht in Clubs zu, sondern konzentrierten ihren Geist auf das Wesentliche, in aller Stille.

Später wurde ich Fahrer von Diedrich Diederichsen. Der große alte Mann der Popkultur ging nun jeden Abend aus. Ich musste ihn zu Hause abholen, zu diversen Clubs fahren, und auch in diesen ausharren. Es war entsetzlich. Die Mädchen waren alle unfassbar jung, und niemand interessierte sich für mich. Ich verstand auch niemanden, wegen des Lärms, also der Neue-Deutsche-WelleMusik und des kollektiven Anbrüllens dagegen. Ich sah nur aufgerissene, sich bewegende Münder. Überall ein wahnsinniges Gedränge, und jeder hatte eine Flasche Bier umklammert und eine Zigarette in der Hand. Und das war noch harmlos im Vergleich zu den Clubs heute. Jedenfalls sah ich, wie schlecht es Diederichsen dabei ging. Er war am Ende immer so zerstört, dass ich ihn zur Toilette schleppen musste, wo er Blut spuckte. Grässlich.

Wir waren damals drei Freunde, und der dritte, Stephan T. Ohrt, bekam bei einem Blondie-Konzert einen Hörsturz und verlor dabei sein Hörvermögen fast zur Gänze und dauerhaft. Wenige Jahre später starb er ganz – an Alkoholvergiftung. Diederichsen zog sich daraufhin aus dem Nachtleben zurück. Ich selbst hatte niemals damit angefangen.

Erst in Köln änderte sich das. Es ist, wie in Wien, definitiv nicht möglich, in Köln nicht auszugehen. In Köln abends nicht beim Kölsch zu sitzen wäre so, als ignorierte man als Muslim in SaudiArabien den Islam. Das geht nicht. Sie würden einen aus der Wohnung zerren und zum öffentlichen Besäufnis zwingen. So nahm ich mir vor, drei Monate lang durchzutrinken und mich anschließend zu verstecken. Es waren die Monate Mai, Juni, Juli, und ich schrieb ein gleichnamiges Buch darüber. Es machte mich dermaßen bekannt, dass noch Jahre später ein Angebot daraus erwuchs: Der Präsident des Österreichischen Verlegerverbandes lud mich ein, in Wien das Experiment zu wiederholen. Das dabei entstehende Buch solle Hundert Tage Alkohol heißen.

Gesagt, getan. Wieder griff ich, nach Ewigkeiten wohltuender Abstinenz, zur Flasche. Auch ein Lokal hatte man für mich ausgeguckt, das Anzengruber in der Schleifmühlgasse. Dort trank ich mich fest. Zum Glück war es nicht so laut wie in den Clubs von Berlin-Mitte, etwa dem Berghain, wo ich nie war, von dem ich aber Entsetzliches gehört hatte. Auf fünf Etagen hatten die vom Turbokapitalismus ausgehöhlten Existenzen dort gekokst, gebrüllt, getanzt. Getanzt nur andeutungsweise, da jeder Gast eine Fläche von 30 cm Durchmesser zur Verfügung hat. Hier nun konnte ich immerhin mit meinem jeweiligen Nebenmann reden, äh, schreien. So lernte ich im Laufe dieser 100 Nächte so ziemlich jeden kennen, der regelmäßig ausgeht. Zum Beispiel den Glavinic. Dem musste ich als Erstes unterschreiben, ihn nicht in meinem Roman vorkommen zu lassen. Oder die Doris Knecht, die eine begabte Hausfrauenkolumnistin ist. Thomas Draschan habe ich getroffen und Tex Rubinowitz, Doron, Alexander, Benedikt Maria Föger, Mavie Hörbiger, David Schalko, Robert Stadlober .. . Bei dem fällt mir ein, dass er beim ersten Treffen wohl zehnmal auf mein hohes Alter zu sprechen kam. Schließlich machte ich mir Sorgen und fragte rundheraus, ob er Angst vorm Älterwerden und Sterben habe. Da stockte er und nahm den Hut ab, den er den ganzen Abend im überheizten Lokal getragen hatte. Später sah ich, wie Schalko sich um den Weinenden kümmerte. Zehn Jahre ohne Hauptrolle hatten dem einstigen Jungstar so zugesetzt, dass er nur an sein Ende denken konnte.

Also, ich traf die Wiener, die ausgehen. Das ganze Nachtleben und sein Ensemble. Ich trank mich mit ihnen in die Besinnungslosigkeit hinein und hinunter. Ich weiß nun, wie sie sich fühlen. Aber ich habe es immer schon gewusst, ehrlich gesagt. Schon als Kind hatte ich abends oft nicht einschlafen können, weil es in unserer abgelegenen Straße eine Bar gab. Die Betrunkenen störten die majestätische Ruhe der Nacht. Die so aggressiven wie hilflosen, ordinären Schreie der armen Schweine werde ich nie vergessen. Ich war erst fünf Jahre alt und doch schon schlauer als viele heute.

Natürlich gibt es keiner zu. "Wo wart ihr gestern?", wird der junge Mensch am Montag gefragt. Er muss antworten. "Und am Samstag?" Wieder wird er etwas Lustiges parat haben. "Und am Freitag?" Ja, auch da war er irgendwo. Im Ostclub zum Beispiel. "Wann seid ihr gegangen?" Oh, ganz spät erst, es war ja eine mächtige Hetz. Spaß hat er gehabt, betrunken ist er gewesen, und die Sowieso ist auch noch gekommen, Wahnsinn. Aber am Ende hat er kaum noch was mitgekriegt, hahaha ...

Bingo! Von der Wiege bis zur Bahre Stress und Alkohol. Die Nachtlebenlüge eben. Er erzählt sie tapfer, unser kleiner Soldat an der Ausgehfront, ob jung oder alt ... Aber am nächsten Morgen immer diese wahnsinnige Zerstörung im Gehirn. Diese Kopfschmerzen, diese Verzweiflung, dieses Entsetzen. Hier müsste ein Moment der plötzlichen Klarheit aufkommen, aber gerade in der Lage kann der Kopf nur noch eines denken: Oh weh, oh weh, oh weh ...

Ich frage mich, warum keiner zugibt, wie unbefriedigend und antihumanistisch so ein Verdrängungssystem ist. Warum die Menschen sich nicht wieder in Wohnungen treffen und ehrlich miteinander sind. Als Antwort kann ich mir nur vorstellen, dass alles zu weit fortgeschritten ist. Also das, was brave Marxisten früher "Entfremdung" genannt hätten. Manchmal sah ich aber doch einen einfachen Ausweg. Es gelang mir manchmal, mich mit abgehetzten, vom Ausgehstress deformierten Figuren, die mir aber eine Ahnung einer anderen Seite mitgaben, für den nächsten Tag zum Spaziergang zu verabreden. Menschen, die ich sonst nie kennengelernt hätte, flanierten dank der Begegnung im Nachtleben nun mit mir durch die taghelle Stadt. Daniel Kehlmann lernte ich schätzen, aber auch Peter Hörmanseder, Josef Hader und – last, but not least – die wunderbare Innenpolitik-Redakteurin Christa Z., die seit 18 Jahren alle Rechtspopulisten von Haider bis Strache in die Tonne getreten hat. Kehlmann erzählte mir mit kaum hörbarer Stimme im leeren Café Prückl von Geistern, an die er glaubte, während ich von der Brändle-Wohnung in der Bäckerstraße berichtete, in der es erwiesenermaßen spukt. Auch über seinen Vater redeten wir, den das moderne Regietheater gekillt hat – meine Interpretation -, und von meiner Mutter, die am Ende ihrer 55-jährigen Rezensententätigkeit nur noch schluchzend aus dem Theater kam ... Ich muss zum Ende kommen. Mein Fazit soll sein: Das Nachtleben ist der kleine Bruder des sexistischen Denkens. Auch das ist nach Jahrhunderten des kollektiv verabredeten Selbstbetruges eines Tages hinterfragt worden. Dieser Tag war der, nota bene, als Alice Schwartzer das Wort Penetration erfand, und das überhaupt nicht positiv meinte. So wird auch die Zeit kommen, da das gemeinsame Wegsaufen als das gesehen wird, was es ist und immer war: eine Unterwerfung. (Joachim Lottmann, DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 5./6. November 2011)