Strandidylle 1937 an der Adria: Sohn Peter auf der Mutter, vor Vater und Großvater, neben zwei Freundinnen dieser Familie Berczeller.

Foto: P. Berczeller

Wolfgang Weisgram ist Autor und Korrespondent des STANDARD im Burgenland. Er lebt in der Nähe von Mattersburg, mit dessen langer, interessanter, erhebender und erbärmlicher Geschichte er sich immer wieder journalistisch beschäftigt.

Foto: P. Berczeller

Wenn Peter Berczeller zu erzählen beginnt, dann greift er dabei nicht bloß in den Fundus des eigenen Lebens, sondern in den seiner Familiengeschichte. Und wenn er das tut, dann erzählt er, wie nebenher, auch die Geschichte des Burgenlandes, eines Landes, das die Berczellers miterfunden, mitbegründet, mitgestaltet und vor allem auch miterlitten haben. Wäre das 20. Jahrhundert so verlaufen, wie es nach menschlichem Ermessen hätte verlaufen müssen, dann könnte man jetzt, zum Neunziger, eh anders reden übers Burgenland, auf geläufigere Weise familiärer. Dann gäbe es neben den Adelsmischpochen - Esterházy, Batthyány, Draskovich - auch ein paar prominentere oder sogar prominente Bürgersfamilien. In ökonomischer Hinsicht wären das wohl die Wolfs aus Eisenstadt, die, so schrieb es Franz Werfel in sein verzweifeltes Romanfragment Cella, "unter den Unsrigen vergleichsweise dieselbe Rolle spielen wie das Magnatengeschlecht der Esterházy im weiten Land". Im geistlichen Leben wäre weiterhin von den Ehrenfelds die Rede, die mittlerweile in x-ter Generation die Mattersdorfer Rabbiner stellen. Und müsste einer von den Sozialdemokraten reden, dann wohl wie selbstverständlich von den Berczellers. Und Peter Hanns, der in dem Jahr, in dem das Burgenland seinen zehnten Geburtstag gefeiert hatte, in Mattersburg zur Welt gekommen ist, müsste sich nun, achtzigjährig, nicht mit dem Gedanken herumschlagen, ob er "zurückkommen soll" oder eher doch nicht.

So wie er es zuletzt erzählte, wird er es wohl bald tun. Zurückkommen, "um so irgendwie den vollen Kreis meines Lebens zu schließen". Eines Lebens, das einiges über Österreich, sehr vieles über das Burgenland und alles über das vermaledeite Jahrhundert erzählt, dessen Wiedergänger jetzt, da es allmählich anfängt zu verblassen, wieder und wieder das Maul aufreißen, als hätte es kein Gestern gegeben.

Dieses Gestern begann, in dem hier zu beschreibenden Zusammenhang, 1896. Da kam, 18-jährig, ein junger, rebellischer Schriftsetzer aus Budapest nach Ödenburg. Berczeller hieß er. Und Adolf, ausgerechnet. In Sopron tat er sich um wie in Wien der Victor Adler, er mühte sich also, seinem König, dem Ferenc József, eine g'scheite Sozialdemokratie zu schenken. Adolf Berczeller war Mitbegründer der Partei in Westungarn, 1912 zog er sogar als erster Roter in den Ödenburger Stadtrat ein. Da war er quasi schon eine Art Honoratior der gediegenen, nun allmählich auch industrialisierten Freistadt, längst auch Ehemann und Vater, verheiratet mit der Sidonie Kohn, deren Familie seit Jahrhunderten im nahen Lackenbach daheim war.

1902 brachte die Sidonie Berczeller ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn, dem sie und ihr Adolf den Namen Richard gaben und der mit seinen jüngeren Brüdern, Arpád und Paul, in die brüchige Gemächlichkeit der Garnisonsstadt hineinwuchs. Richard folgte dem Vater auch ins politische Interesse, schon mit 16 nahm er an den Parteiversammlungen und Stadtberatungen teil.

Das Engagement für die Sozialdemokraten führte den Vater nach dem Krieg auch in Béla Kuns Räteverwaltung der Stadt und des Komitats und deshalb nach der Machtübernahme des Nikolaus Hórthy 1919 in die erste Emigration. Die Berczellers fliehen hinüber ins demokratische Österreich, erst nach Wiener Neustadt, später nach Baden, von wo aus Sohn Richard mit der Elektrischen zum Medizinstudium nach Wien pendelt. Ins Burgenland zurück kamen sie erst wieder mit der österreichischen Verwaltung.

Neben dem Studium musste das Flüchtlingskind Richard klarerweise auch arbeiten. Erst als Nachhilfelehrer für Französisch, kurz darauf, es war im Jahr 1921, wurden von der Sascha-Filmgesellschaft Statisten gesucht, ein begehrter Studentenjob auch heute noch. Der Film - einer der ersten Monumentalschinken der Welt - sollte den Titel Sodom und Gomorrha tragen. Regisseur war ein gewisser Michael Kertész, der dann Jahre später als Michael Curtiz den Klassiker Casablanca - ja genau: Humphrey Bogart, Ingrid Bergmann und dieses "Schau mir in die Augen, Kleines!" - drehen wird. Im Spätsommer des Jahres 1921 bestanden die beiden freilich ein Abenteuer ganz anderer Art. "Ich erinnere mich genau", erinnerte sich Richard Berczeller 1975 in dem Buch ... mit Österreich verbunden, das er gemeinsam mit Norbert Leser herausgegebenen hatte, "es war am 27. August, einen Tag vor dem großen Ereignis. Leser, Till, Fiala, Davy, Walheim, Koch waren in Wiener Neustadt, und ich wollte auch dabei sein." Dabei sein also, wenn die Republik Österreich das neue Bundesland in Besitz nimmt. Also verlangte Berczeller von Kertész "ein paar Tage Urlaub", der fragte ihn, ob er übergeschnappt sei, und überhaupt: "Was hast du dabei verloren? Was bist du denn schon? Vielleicht der burgenländische Conrad von Hötzendorf?"

Gleich darauf hatte Kertész allerdings eine andere Idee. "Wie wäre es, wenn ich einen Film über die Landnahme drehen würde?" Und so geschah es auch. Berczeller und Kertész schlossen sich der burgenländischen Führungsgarnitur an - den Sozialdemokraten Ludwig Leser, Ignaz Till, Johann Fiala, dem provisorischen Landesverwalter Robert Davy, dem Deutschnationalen Alfred Walheim, dem Christsozialen Michael Koch - und marschierten unter Gendarmeriebedeckung bis nach Agendorf, wo, im Blick schon Berczellers Heimatstadt, heftiger ungarischer Widerstand den Vormarsch stoppte. Kertész drehte auch während des Schusswechsels, sein Film über die gescheiterte burgenländische Landnahme, ein Wochenschau-Beitrag, ist verschollen. Aber der Enkel von Richard Berczeller trägt das cineastische Erbe ins Heute. Der US-österreichische Doppelstaatsbürger Paul Berczeller lebt als erfolgreicher Dokumentarfilmer in Großbritannien.

Wirklich österreichisch wurde das Burgenland erst kurz vor Weihnachten 1921, allerdings ohne Berczellers Heimatstadt, die mit den Umlandgemeinden, darunter eben auch das umkämpfte Agendorf/Ágfalva, nach einer Volksabstimmung in Ungarn verblieb. Mit ihr blieben auch die hauptstädtischen Strukturen jenseits der Grenze, unter anderem die von Adolf Berczeller mitbegründete Arbeiterkrankenkasse.

Nun musste er das noch einmal fürs Burgenland tun. Bis heute erinnert eine Tafel in der Eisenstädter Gebietskrankenkasse an ihren ersten Direktor, der 1925 auch Vizepräsident der burgenländischen Arbeiterkammer wurde. Ein, wie man so sagt, gestandener Sozialdemokrat, einer der großen Männer der Partei, die sich Anfang der Dreißigerjahre praktisch widerstandslos jenen ergeben hatte, die vollmundig verkündeten, den mörderischen Nazismus dadurch kleinkriegen zu wollen, indem man selber zum Faschisten wird.

1933 übernahm Dollfuß die Macht, im Februar 1934 wurde die Sozialdemokratische Partei verboten, Adolf Berczeller verhaftet und, 56-jährig, zwangspensioniert. "Das", sagt Enkel Peter, "hat er nie wirklich verkraftet, er war ja noch so voller Elan."

Sohn Richard, seit 1930 praktischer Arzt in Mattersburg, verlor seinen Kassenvertrag. Und seine politische Tätigkeit - er war Bildungsreferent und medizinischer Beauftragter des Schutzbundes - wurde lebensgefährlich. Er schloss sich - so wie in Wien Bruno Kreisky - den Revolutionären Sozialisten an und betätigte sich als Schmuggler für die in Pressburg gedruckte sozialdemokratische Burgenländische Freiheit. Häufige Hausdurchsuchungen und mehrere Verhaftungen waren die Folge, insgesamt war das alles freilich bloß der Vorgeschmack aufs Kommende.

Nach Mattersburg kam die Apokalypse schon am 11. März 1938. Richard Berczeller hörte im Radio Kurt Schuschniggs "Gott schütze Österreich". Als illegaler Sozialdemokrat war er zwar vorbereitet: "Ich ging in meine Ordination und holte aus der Schreibtischlade meinen Reisepass und ein paar Schilling ... und rannte zur Bahnstation." Aber: "Dort warteten bereits zwei Gendarmen mit Hakenkreuz-Binden am Arm. Beide waren Patienten von mir." Richard Berczeller wurde in Haft genommen, seine Frau Maria und Sohn Peter aus der Wohnung geworfen, die neuen Herren drängten die Familie zum ehebaldigsten Verschwinden. Eine Tante von Maria Berczeller war Privatsekretärin von Sigmund Freud. Und weil dessen Tochter Anna und die psychoanalytisch interessierte Marie Bonaparte - ja, eine Nachfahrin des Bonaparte - Freundinnen waren, erhielt die Familie relativ rasch Visa nach Frankreich.

Mattersburg, Wien, Paris, Elfenbeinküste, wieder Paris und Lager für "feindliche Ausländer", von Marseille aufs Meer hinaus, endlich und knapp genug, dann interniert in Marokko und endlich dann, endlich, New York. Beinahe wäre die Familie gänzlich zusammengeblieben. Aber Bruder Paul - ein Zahnarzt aus Wiener Neustadt und Namensgeber des Filmemachers - schaffte es nicht mehr auf die "Wyoming", fiel in Schergenhand. Niemand weiß, wo genau er ermordet wurde. "Nicht einmal in Yad Vashem ist sein Name vermerkt", sagt Peter Berczeller, "wir glauben, dass er in Monowitz umgekommen ist, einem Außenlager von Auschwitz. Da hat ihn jedenfalls jemand, der überlebt hat, noch gesehen."

In New York begann für die Familie der rund um sie ja tausendfach beschrittene Leidensweg aller Vertriebenen. Belastet mit dem tiefen Trauma, aus der Heimat hinausgeworfen und gedemütigt worden zu sein, hineingeworfen in eine fremdsprachige Welt, in der gerade die hochgebildeten Menschen sich in der neuerlich demütigenden Rolle von Analphabeten wiederfanden. Eindrucksvoll schilderte Richard Berczeller den Englischkurs, den er mit wahren Kapazundern der berühmten Wiener Medizinischen Schule absolvieren musste, "wir waren genau wie Schuljungen".

Am beeindruckendsten war wohl der Umstand, dass Richard Berczeller diese Geschichten in der neu erworbenen Sprache schrieb. Displaced Doctor heißt seine erste Autobiografie, die als Die sieben Leben des Doktor B. ins Deutsche getragen wurde. In den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren war Berczeller ein ständiger Autor der angesehenen, auch literarisch sehr wesentlichen Zeitschrift The New Yorker. Viele der Kurzgeschichten - die im Frühjahr im Wiener Czernin-Verlag auf Deutsch erscheinen werden - handeln von Österreich, nein: vom Burgenland, nein: von Mattersburg, nein: von der Mattersburger Judengasse. Aber in all diese Geschichten hat Richard Berczeller sein Herz hineingehängt. "Mein Vater war keiner, der mit Worten jonglierte, im literarischen Sinn. Aber er konnte erzählen wie kein Zweiter."

Als einer der wenigen wurde er "nach dem Krieg zurückgerufen". In manchen der burgenländischen Briefe ließe sich beinahe der Tatbestand des Bekniens feststellen, sosehr ging einer wie er der nun wieder ans Werk gehenden burgenländischen Führungsgarnitur ab. Aber Richard Berczeller winkte ab. "Mein Sohn", schrieb er einmal in die alte Heimat, "ist durch ein Dutzend Schulen gegangen und wollte nicht wieder neu beginnen in einem für ihn fremden Land, in einer fremden Sprache."

Aber vielleicht war das vom Vater auch nur ein wenig vorgeschoben. Weder die Sprache noch das Land ist dem Peter Hanns Berczeller, geboren 1931 in Mattersburg, promoviert in Chicago, als Internist und Universitätsprofessor tätig in New York, jetzt wohnhaft in der Nähe von Paris, wirklich fremd, denn: "Ich spreche drei Sprachen sehr gut. Am besten kann ich mich natürlich in Englisch ausdrücken, ich spreche aber auch fließend Französisch. Aber Deutsch", sagt Peter Berczeller, "spreche ich mit dem Herzen." Nein, er sagt nicht Deutsch. Österreichisch, sagt er. Und so klingt es auch.

Sein Vater, Richard Berczeller, der Erzähler, erzählte und erzählte auch in die damals junge Generation hinein. Das hat nicht nur seinen Sohn geformt. Sondern auch ein paar in seiner Partei und über die weit hinaus. Alle österreichischen Amerikafahrer der Nachkriegszeit hatten bei ihm eine Anlaufstation. Er bewirtete - und Sohn Peter behandelte - die Botschafterfamilie Klestil, er war gut befreundet mit Norbert Leser, dem Neffen des Landeshauptmanns Ludwig Leser, der auch ein Kampfgefährte der Berczellers war. Aber auch Josef Klaus, Bundeskanzler der ÖVP-Alleinregierung, fühlte sich den Berczellers sehr verbunden. Und er beeindruckte den heutigen Österreichchef der Hamburger Zeit, Joachim Riedl, so sehr, dass dieser ein Buch über ihn machte, dessen Herausgeberkomitee ein beeindruckend parteiübergreifendes Who's who der Bundespolitik ist.

Aber einen jungen Politiker hat er, das sagt auch sein Sohn im Bewusstsein der Bedeutung dieses Wortes, praktisch adoptiert. Fred Sinowatz hielt der "Genosse aus New York" für eine echte Hoffnung dieser Partei, aber auch dieses Landes.

Richard Berczeller starb 1994, im 92. Lebensjahr. Der Zeitpunkt des Todes war seine eigene Entscheidung, erzählt der Sohn Sabrina Hergovich vom Literaturhaus Mattersburg für deren im heurigen Frühjahr in der Edition Lex Liszt erschienenes Hörbuch Es gab eine Zeit. Man habe ihn, den Sohn, selber Arzt und deshalb umso mehr wissend um die diagnostische Kunst des Vaters, "angerufen und gefragt, was zu tun wäre. Ich habe geantwortet, dass er gewusst hat, was er tut. Aber ich habe auch Sinowatz angerufen. Und er war dann der Letzte, mit dem mein Vater gesprochen hat."

Man darf annehmen, sie sprachen übers Burgenland.

Peter Hanns Berczeller wird demnächst zurückkommen, um den "vollen Kreis meines Lebens zu schließen". Wenn das heutige, 90-jährige, sozialdemokratisch geführte Burgenland auch nur ein bisschen auf sich hält, wird es, aufmunitioniert mit eh immerhin vier Millionen Euro "Jubiläumsgeld" des Bundes, sich irgend- was Diesbezügliches einfallen lassen. Und sei es nur, die Mattersburger Bürgermeisterin Ingrid Salamon - Landtagsabgeordnete von Adolf, Richard und Peter Berczellers Partei - darauf hinzuweisen, dass da immer noch etwas zu tun wäre. (Wolfgang Weisgram/DER STANDARD, Printausgabe, 5./6. 11. 2011)