Wien - US-Filmemacher Paul Schrader berief sich auf ihn als einen der wesentlichen Vertreter eines transzendenten Kinos, die Riege weiblicher Opferfiguren in den Arbeiten seines Landsmanns Lars von Trier wäre ohne sein Vortun kaum vorstellbar, und noch in der Strenge von Michael Hanekes Reenactment eines protestantischen Dorfes in Das weiße Band mag man entsprechende Referenzen finden: Die Rede ist vom 1889 in Kopenhagen geborenen Carl Theodor Dreyer, einem der großen Regisseure der Filmgeschichte, dessen Werk trotz der Schmalheit von "nur" 14 Filmen (in 45 Jahren) höchst einflussreich geblieben ist.
Dreyer begann ursprünglich als Journalist und gelangte durch seine Artikel über Flugtechnik in Kontakt zu Nordisk Film, für die er bald darauf begann, Drehbücher zu schreiben. Schon für seinen ersten Film, Praesidenten (1919), griff er auf Amateurschauspieler zurück, weil sie für die Typisierungen, die ihm vorschwebten, die passenderen Gesichter hatten. Ein Detail, das vor dem Hintergrund, dass Dreyer mit La Passion de Jeanne d'Arc (1928) den wohl berühmtesten Close-up-Film überhaupt drehte, von Bedeutung ist - er verfolgte darin die Absicht, im Gesichtsausdruck der leidenden Jeanne ihren innersten Seelenzustand herauszuschälen.
Das Kino Dreyers war, das zeigt sein unaufhörliches Suchen nach neuen Lösungen, ein erfindungsreiches: Sein Realismus war gleichwohl nicht der äußerlichen Wirklichkeit verpflichtet, sondern der subjektiven Wahrheit seiner Protagonisten - es ging um die Essenz hinter den Erscheinungen. Ein expressives Beispiel dafür ist Vampyr, Dreyers Horrorfilm von 1932, sein erster Tonfilm, der seinen Helden in einen Totentanz verstrickt, in dem bald unerheblich wird, was davon Einbildung und was Realität ist. Das Vampirische ist hier eine ansteckende Atmosphäre des Todes, der Schatten auf die Lebenden wirft. Der seltsam somnambule Held wurde wiederholt als Alter Ego des Regisseurs gedeutet, der mit dem Film den Freitod seiner leiblichen Mutter verhandelte - dies mag generell die vielen Frauenfiguren Dreyers erklären, die von ihrem Leiden erlöst werden wollen.
Dreyers spätere Filme entstehen in größeren Abständen, mit Ordet (Das Wort) gewinnt er 1955 die Filmfestspiele Venedig, Gertrud, seine letzte Arbeit, stellt er 1964 fertig. Filme, die nach Abstraktion streben, mysteriös in ihrer täuschenden Einfachheit: In Ordet wird einer Bauernfamilie die Glaubensfrage gestellt, als mit der gutherzigen Inger die Seele des Hauses schwer erkrankt. Ein Sohn ist dem Wahnsinn verfallen, er glaubt, er sei Jesus Christus, der andere an gar nichts mehr. Der Vater zürnt. Am Ende geschieht ein Wunder, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 8. November 2011)