Jungunternehmer, die genug vom Jammern haben (von re.): IT-Experte Michael Forisch, MySugr- Geschäftsführer Frank Westermann, Medizininformatiker Fredrik Debong und Entwickler Michael Groh.

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Früher hatte Frank Westermann keine Lust, sich über seine Krankheit zu unterhalten. Als er 18 war, wurde bei ihm Diabetes Typ 1 diagnostiziert. "Ich muss mich permanent darum kümmern. Mal fällt es leichter, mal schwerer", sagt der heute 34-Jährige, der aus Nordrhein-Westfalen stammt und nun in Wien lebt.

Seit zweieinhalb Jahren spricht er gern und viel über Diabetes. Da lernte er Fredrik Debong kennen, der im zarten Alter von knapp vier Jahren Typ-1-Diabetiker wurde. "Ich habe den ganzen Scheiß durchlebt", sagt der gebürtige Schwede, heute 30. "Diabetes ist immer da. Es ist immer eine Belastung. Deswegen sind auch viele Betroffene so schlecht drauf."

Was man von Westermann und Debong allerdings nicht behaupten kann. Sie haben genug vom ewigen Jammern, von den diffusen Diabetikerängsten, dass man im Alter die Füße verlieren könnte, wenn man nicht aufpasst. Völlig entspannt sitzen die beiden Gründer des Start-ups MySugr in ihrer loftartigen Bürogemeinschaft im fünften Wiener Bezirk, umgeben von kreativen Menschen, lässigem Industriedesign, alten Büromöbeln, bunten Lampen und Sofas jeglichen Stils.

Den Betriebswirt Westermann und den Medizininformatiker Debong verbindet nicht nur die gesunde Einstellung zu ihrer Krankheit, beide verfügen auch über Erfahrungen beim Aufbau von jungen Technologieunternehmen. Mit dem Conceptual Designer Gerald Stangl und dem IT-Experten Michael Forisch zogen sie MySugr auf. Das Ziel: eine Diabetes-App zu entwickeln, die einen positiveren Zugang zu der Krankheit schafft und den Betroffenen auf spielerische Art eine echte Hilfe bei der Kontrolle des Blutzuckerspiegels sein kann.

"Inglorious diabetics"

"Conquering diabetes" lautet die Mission des mittlerweile sechsköpfigen Teams. Mit knackigen Sprüchen und einem ambitionierten Social-Game-Konzept erlangten die "inglorious diabetics", wie sie sich nennen, einige Aufmerksamkeit - noch bevor iPhone-App und Webservice im ersten Quartal 2012 auf den Markt kommen: Soeben gingen sie als "bestes österreichisches Start-up" aus der Start-up Week 2011 hervor. Im September wurde das Jungunternehmen in Berlin zur "Most Promising Company in 2011" gekürt. Als "existenziell" bezeichnen die Gründer das "Preseed"-Startkapital der Förderbank Austria Wirtschaftsservice (AWS) in Höhe von 150.000 Euro (siehe Wissen).

Derzeit wird mithilfe einer kleinen Testgruppe an den letzten Details der Anwendung gefeilt, ein paar Einblicke kann Fredrik Debong aber schon geben. Ein Beispiel: In ein Suchfeld gibt er "Wiener Schnitzel" ein, und schon listet das App alle seine Einträge dazu auf, also wann er und wo er Schnitzel gegessen hat, ob er an dem Tag gestresst war oder Sport gemacht hat, welche Werte er vor und nach der Mahlzeit hatte und wie viel Insulin er spritzen musste. So kann er Erfahrungswerte ausheben, die ihm bei der nächsten Gelegenheit und je nach Situation die Einstellung der richtigen Insulinmengen erleichtern.

"Technisch gesehen ist die Datenanalyse heute kein Problem mehr", sagt Debong. "Worum es geht, ist die psychologische Komponente, die Alltagstauglichkeit." Regelmäßig die Blutzuckerwerte zu messen und in einem Tagebuch zu notieren ist das Um und Auf einer austarierten Diabetestherapie. Ist der Blutzucker unter Kontrolle, minimieren sich auch mögliche langfristige Folgeerkrankungen wie Nierenschäden. Bloß: Die meisten Diabetiker werden schnell nachlässig bei ihren Aufzeichnungen.

Als Anreiz - und auch als Abgrenzung zu ähnlichen Apps - bedient sich MySugr außerdem klassischer Game-Elemente: Je mehr Daten man einträgt, desto höher der Punktestand. Nach und nach können weitere "Levels" freigeschaltet werden, außerdem kann man im Multi-Player-Modus mit- oder gegeneinander spielen. "Als Diabetiker spielt man schließlich ständig gegen sich selbst", erklärt Frank Westermann. "Mit einer sozialen Ebene wollen wir die Leute längerfristig motivieren, gern und schnell ihre Daten einzugeben." Betroffene sollen sich untereinander vernetzen und aus den Erfahrungen anderer lernen können.

Medizinische Anforderungen

Indem die Software die Werte mit bunten Balken und Kurven ständig veranschaulicht, sollen Schwachstellen sichtbar werden. Mit Feedback und Empfehlungen an die User hält sich MySugr vorerst noch zurück, weitere Ausbaustufen und eine Version für Kinder sollen folgen. Die Anforderungen, die an ein E-Health-Produkt gestellt werden, nehmen die Jungunternehmer ernst: Westermann legte eine Prüfung ab, die ihn für den Handel mit Medizinprodukten befähigt, eben laufen die Vorbereitungen für eine ISO-Zertifizierung.

Bei der gesamten Entwicklung steuerten Ingrid Schütz-Fuhrmann von der Diabetesstation am Krankenhaus Hietzing und Franz Wiesbauer von der Med-Uni Wien medizinische Expertisen bei. Mit Abbott Laboratories wurde ein gewichtiger Partner aus der Forschung ins Boot geholt, künftig will man mit den Krankenkassen zusammenarbeiten.

Mit der Technologie erschließen die jungen Diabetiker eine Nische. Regulierungen und Standards für E-Health und mobile Health greifen erst langsam - zumal im Bereich von Apps. "Dabei geht es nicht nur um Spaß", wie Debong betont. "Letztlich geht es um Leben und Tod." (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Printausgabe, 9. 11. 2011)

--> Wissen: Startkapital

Startkapital

Im Gegensatz zu Berlin und London ist Wien nicht gerade bekannt als Startup-Mekka, zumal für Hightech-Produkte. Dass gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise verstärkt Anreize zur Frühphasenförderung geschaffen werden müssen - darüber ist man sich aber einig. So unterstützt die Förderbank Austria Wirtschaftsservice (AWS) im Auftrag des Wirtschaftsministeriums junge Unternehmer mit der Initiative "Preseed". Damit werden Unternehmensgründungen im Hightech-Bereich mit einem Startkapital von bis zu 200.000 Euro gefördert. Knapp 20 Projekte im Jahr profitieren von dem seit 2008 laufenden Programm.

Zudem setzt die AWS auf eine neue Venture-Capital-Initiative. In einem zweiten Call, der noch bis Jahresende läuft, werden Investoren für einen Risikokapitalfonds gesucht, der jungen forschungs- und technologieaffinen Unternehmern zur Verfügung stehen soll. (kri/DER STANDARD, Printausgabe, 9. 11. 2011)

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