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Wie man sich einen echten Vordenker der Kybernetik vorstellt: Heinz von Foerster 1959 am Biological Computer Laboratory (BCL) der Universität Illinois.

Foto: Heinz-von-Foerster-Archiv an der Uni Wien

"Mein wunderbarstes Erlebnis" hieß ein kleiner Text von Heinz von Foerster, den die Deutsche Wochenzeitung Die Zeit in der Ausgabe vom 1. Jänner 2000 abdruckte. Der damals fast 90-Jährige erinnerte sich, wie er an einem solchen Neujahrstag 60 Jahre zuvor kopfüber sein Glück machte: Sein Vetter und zugleich bester Freund nahm ihn zu einer Party mit. Als die Gastgeberin Mai Stürmer die Türe öffnete, machte Heinz von Foerster gerade einen Handstand. Ein paar Wochen später waren die beiden verheiratet.

Diese Anekdote ist nicht ganz untypisch für den studierten Physiker Heinz von Foerster, der in vielen Forschungsbereichen – und nicht zuletzt in der Erkenntnistheorie selbst – immer wieder die Perspektiven änderte und so manches auf den Kopf stellte. Unter anderem auch die Vorstellung davon, was die Wirklichkeit eigentlich sei: So war für den Mitbegründer der Kybernetik und des radikalen Konstruktivismus ihre Wahrnehmung nichts anderes als "unsere Erfindung".

"Onkel" Ludwig Wittgenstein

Der am 13. November 1911 geborene Heinz von Förster (damals noch mit ö) stammte "aus einer echten Wiener Familie germanisch-slawisch-jüdischer Abstammung", wie er es selbst zu formulieren pflegte. Ludwig Wittgenstein war sein "Nennonkel", und Hugo von Hofmannsthal gehörte ebenfalls zur großen Verwandtschaft. Sein viel jüngerer Bruder Uzzy war Jazzmusiker und dadaistische Szenegröße Wiens.

Noch zu Studienzeiten machte er, auch über Wittgenstein, Bekanntschaft mit Philosophen des "Wiener Kreises". Nach Beendigung seines Studiums 1944 in Breslau verbrachte er einige wechselvolle Jahre in der Industrie und im Rundfunk, ehe er 1949 in die Vereinigten Staaten übersiedelte, wo er mehr als ein halbes Jahrhundert verbringen sollte.

Die Brücken zur alten Heimat brach er dabei aber nie ganz ab: So stand er unter anderem mit seinem ebenfalls österreichstämmigen Freund Ernst von Glasersfeld in engem Kontakt. Mit diesem zweiten Vater des radikalen Konstruktivismus verband ihn die Überzeugung, dass die Wirklichkeit nicht passiv wahrgenommen, sondern vielmehr von jedem Individuum aktiv konstruiert und "erfunden" wird.

In seiner neuen Heimat USA wurde der begeisterte Bergsteiger und begeisternde Vortragende zunächst Leiter eines elektronischen Forschungslabors an der Universität von Illinois und Mitorganisator der Tagungen der Macy Foundation, bei denen sich die Größen der Kognitionswissenschaft wie Gregory Bateson, Warren McCulloch, Margaret Mead, John von Neumann oder Norbert Wiener ein Stelldichein gaben.

1958 richtete von Foerster dann das heute legendäre Biologische Computer Labor (BCL) an der Universität Illinois ein, das zu einem Sammelpunkt für Logiker, Mathematiker, Informatiker, Neurophysiologen, Psychologen und Sozialwissenschafter auf der gemeinsamen Suche nach der Struktur und der Organisation von Denkprozessen avancierte. Für von Foerster war das Transdisziplinarität – im Gegensatz zur Interdisziplinarität, die "bloß" das Verständnis mindestens zweier wissenschaftlicher Richtungen voraussetzte.

Um das Verstehen zu verstehen, befragte von Foerster die Kybernetik, die Wissenschaft von zirkulären Steuerungsprozessen, nach ihrer eigenen Selbstreflexivität und schuf eine "Kybernetik zweiter Ordnung", in der nicht mehr eine "Welt da draußen", sondern der Beobachter dieser Welt im Zentrum steht. "Man lernt sich als einen Teil der Welt zu verstehen, die man beobachten will", sagte von Foerster im Gesprächsband Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.

Beobachtung des Beobachters

Erkenntnis als Tätigkeit des Nervensystems verstand er als Errechnen einer Realität – ein ständiger Prozess, bei dem das Gedächtnis jegliches subjektives Wissen immer wieder neu errechnet. Zugleich wird jede Beobachtung durch den Beobachter verändert. Seine daraus abgeleiteten Theorien der Selbstorganisation prägten unter anderem die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns und legten Grundbegriffe für Komplexitäts- und Chaostheorie fest. Ethische Grundsätze wollte er aus seinen Konzepten allerdings nur teilweise ableiten. Seinen eigenen "kategorischen Imperativ" formulierte er so: "Heinz, handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten steigt."

Von Foerster war Autor weniger Bücher, aber von umso mehr Aufsätzen, außerdem war er zweimaliger Guggenheim Fellow und Präsident der Wenner-Gren-Stiftung. 1996 erhielt er die Honorarprofessur der Universität Wien und 2001 den Ehrenring der Stadt Wien. 2002 starb der originelle Denker, der bis zu seinem Tod mit seiner Frau Mai am Rattlesnake Hill bei San Francisco lebte – mit jener Frau, die er mehr als sechzig Jahre zuvor auf so originelle Weise kennengelernt hatte. (tasch, APA/DER STANDARD, Printausgabe, 9. 11. 2011)

--> Von Foerster weiterdenken

Von Foerster weiterdenken

Eine Tagung und neue Bücher widmen sich dem Jubilar

Selbstorganisation von Systemen als theoretische Basis vom Aktienmarkt bis zur Migration, von der Erkenntnistheorie bis zur Quantenmechanik wird am kommenden Wochenende (11. bis 13. 11.) in Wien diskutiert. Beim 5. Heinz-von-Foerster-Kongress, der anlässlich des runden Geburtstags besonders hochrangig besetzt ist, treffen einander Forscher aus so verschiedenen Disziplinen wie Informatik, Sozialwissenschaft, Biologie und Wissenschaftstheorie, um über "Emergent Quantum Mechanics" und "Self-Organization and Emergence in Nature and Society" zu diskutieren.

Das sind die beiden Generalthemen des Doppelkongresses, der von der Heinz-von-Foerster-Gesellschaft gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien, dem Wiener Institut für Sozialwissenschaftliche Dokumentation und Methodik (Wisdom), dem Institute for Nonlinear Studies (AINS) und der American Society for Cybernetics (ASC) veranstaltet wird.

Wer mit den Theorien des radikalen Konstruktivisten noch wenig vertraut ist, kann rechtzeitig vor dem Kongress bereits heute, Mittwoch, den Workshop "Understanding Heinz von Foerster and Ernst von Glasersfeld" im echoraum Wien (nach Anmeldung gratis) besuchen. Dann sollte man zumindest für die Wiener Vorlesung von Siegfried J. Schmidt gerüstet sein, der am Donnerstag über das Ende der Wirklichkeit im Konstruktivismus referieren wird.

Ob damit die Vorträge von Physikern wie Stephen L. Adler, Gerard't Hooft oder Lee Smolin verständlicher werden, ist wieder eine andere Frage. Für den selbstorganisierten Teil der Tagung werden Größen wie Albert-László Barabási, John Holland oder Didier Sornette erwartet.

Damit nicht genug, erscheinen anlässlich des Jubiläums nicht weniger als sieben neue Bücher von und über den Jubilar. Für die meisten sind die von-Foerster-Fachmänner Albert Müller und Karl H. Müller verantwortlich, etwa den Band Re-Discovering and Re-Inventing Heinz von Foerster.

Wer sich Heinz von Foerster lieber anhört, ist beim Radiosender Ö1 gut aufgehoben, der ab Mittwoch mehr als eine Woche lang gleich mehrere Sendungen seinem Denken und Weiterdenken widmen wird. (tasch, APA/DER STANDARD, Printausgabe, 9. 11. 2011)