Zu Mitternacht bin ich Arthur zum ersten Mal über den Weg gelaufen. Er ist der Namensgeber für diesen Blog. In der Massachusetts Avenue in Washington D.C. sind wir uns begegnet. Es ist eine gute Adresse, im Herzen der Stadt, nur ein paar Häuserblöcke vom Weißen Haus entfernt. Für ein Jahr lang war 1500 Mass. Avenue mein Zuhause. Es ist ein ehemaliges Hotel aus den Fünfziger Jahren, das heute vor allem Pensionisten, Familien und internationale Studenten in Ein- bis Zweizimmer Wohnungen beherbergt.
Es ist November und kalt, meine indische Mitbewohnerin hat wieder einmal ihre Verwandtschaft bei uns einquartiert und das Internet bockt. Müde und griesgrämig schlurfe ich in meinem Pyjama in die Lobby unseres Domizils, in der Hoffnung meine Seminararbeit über die Philippinen doch noch zu einem Ende zu bringen. In der Lobby herrscht trotz später Stunde buntes Treiben. Gloria, die Concierge, schäkert mit den Wachmännern. Ihre Kollegin Julie beruhigt eine panische Mieterin und erklärt ihr geduldig wo sie die klebrige Mäusefalle am besten in der Wohnung plaziert. Eine Gruppe asiatischer Studenten hat den Computerraum neben den Haupteingang in Beschlag genommen.
Übrig bleiben für mich zwei Steckdosen und eine Sitzbank neben den Aufzügen, die ich mir mit zwei älteren Herren in Jogginghosen teile. Plötzlich dreht sich einer der beiden Männer zu mir. „Hey Laptop-Lady, was bist denn du für ein Früchtekuchen?" fragt er und grinst. Irritiert starre ich ihn an und inspiziere meine Aufmachung. Offenbar dürften Flannelpyjamas etwas Aufreizendes haben für eine gewisse Altersschicht, grübele ich. „Früchtekuchen?" frage ich verwirrt zurück."Wußtest du denn nicht, dass wir im ‚International House of Fruitcake‘ wohnen? Schau dich doch um es ist das reinste Irrenhaus!" sagt der Mittfünfziger und lacht. Darf ich vorstellen: Arthur von Wohnung Nummer 135.
In wenigen Minuten, weist er mich ein in die Idiome der englischen Sprache ein und erklärt mir was es mit den verrückten Früchtekuchen auf sich hat. „Nutty as a fruitcake" lautet die Redenwendung. Nutty steht für verrückt, bizarr, verschroben. Und da amerikanische Früchtekuchen - ein unbeliebtes Weihnachtsdessert - voller Nüsse sind, kam eins zum anderen. Von Annäherungsversuch ist also keine Spur. Arthur ist eine Institution in 1500 Mass. Ave. Art, wie sie ihn hier alle nennen, ist ein gutmütiger Riese mit schlohweißen Haar, dessen Gesicht rot anläuft, wenn er über seinen eigenen Witze lacht. Er weiß um die Mysterien und Gestalten der 550 Wohnungen Bescheid.
Da wäre die verrückte Mary, die jeden in ihrer Muttersprache anbellt. Eine Filipina in ihren Vierzigern, die zu jeder Jahreszeit in knappen Shorts umherrennt, immer ihren Waschkorb im Schlepptau. Zwei Söhne habe sie, Taugenichtse, die regelmäßig einsitzen würden. Außerdem lebt sie mit zwei Männern zusammen, ihrem Ehemann, einem Filipino und ihrem Geliebten einem Iren. Beide leben im selben Haus, jedoch auf unterschiedlichen Etagen.
Dann wäre da noch Mr. Lee, der Koreaner den alle für einen Chinesen halten. Im Erdgeschoß hat er einen bunkerähnlichen Tante Emmaladen, nur zugänglich für die Bewohner des Hauses, und auch nur für jene, die wissen, dass sein kleines Ramennudel und Fertiggerichtsparadies parallel zu den Postkästen am hinteren Hauseingang versteckt liegt. Tag aus Tag ein hört er den klassischen Radiosender, liest Zeitung und büffelt chinesische Vokabel, weil ihn das Land so fasziniert.
Und dann gäbe es noch den "Kriegsveteranen" im Rollstuhl, der in Wirklichkeit schon seit seiner Kindheit gelähmt ist. Mit dem ungezähmten Bart und der Haarmähne erinnert er an Lt. Dan Taylor, Forrest Gumps Platoon Kommandanten in Vietnam, dem beide Beine amputiert werden müssen. Aber vielleicht halten ihn die Einwohner auch nur für einen Kriegsveteranen wegen der Lederjacke mit den zahlreichen patriotischen Ansteckern und dem viele Gerede von Militär und Politik. Jeden Morgen rollt er in die Lobby, bringt Gratiszeitungen, macht den Concierge Damen Komplimente und düst dann umtriebig durch die Gänge des acht Stockwerke hohen Wohungskomplexes. Dabei lebt er noch nicht einmal hier.
Nicht zu vergessen ist das ägyptische Ehepaar, über das ich gelegentlich stolpere. Jeden Nachtmittag campieren sie mit ihrem Laptop in den Fluren meiner Etage, ebenfalls auf der Suche nach einer besseren Internetverbindung um Kontakt zu ihrer Familie in Kairo aufzunehmen.
Und dann wäre noch der alte Mann mit der Gehhilfe von Wohnung 425, der ab fünf Uhr nachmittags in voller Lautstärke die schönste klassische Musik hört und es immer wieder abstreitet, wenn man ihn darauf anspricht. In der Tat, es ist ein International House of Fruitcake. Und ich kann mich glücklich schätzen, dazu zu gehören. (Solmaz Khorsand, derStandard.at, 9.11.2011)