22 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer steht Deutschland vor einer weiteren großen Herausforderung. Von Umgang mit der Eurokrise hängt es ab, ob spätere Generationen sagen werden, dass Deutschland seine "zweite Chance" (der Historiker Fritz Stern) genutzt hat oder nicht. Vor 100 Jahren hat diese damals dynamische, innovative und aufstrebende Wirtschaftsmacht ihre Chance katastrophal vertan. Wird die Geschichte diesmal anders aus- gehen?

Die Herausforderung besteht nicht nur darin, die Eurozone zu retten, ohne dass Deutschland seine wirtschaftliche Disziplin opfert. Die wahre Aufgabe - und darüber wird in Berlin kaum geredet - ist noch viel größer.

Wenn die Eurozone gerettet wird, dann als Fiskalunion nach den strikten Regeln des "Stabi- litätshegemons" Deutschland. Nicht nur Griechenland und Portugal, auch Italien und Frankreich müssen ihre Hausaufgaben in Sachen Budget- und Lohndisziplin machen. Wer sich daran erinnert, mit welcher Ehrfurcht Helmut Kohl über Frankreich gesprochen hat, der kann nur staunen, was heute in Berlin geredet wird. "Frankreich muss sich entscheiden, ob es an der Peripherie oder im Zentrum sein will", sagte mir ein Politiker. Es gibt keine Zweifel darüber, wer die Hosen anhat: Es ist nicht der lästige kleine Mann in Paris.

Die meisten der 17 bestehenden Euroländer, auch das Post-Berlusconi-Italien, werden auch unter den neuen Auflagen drinnenbleiben, auch wenn die Praxis hinter der Theorie hinterherhinkt. Bei Griechenland würde es mich überraschen. Unter den zehn anderen EU-Staaten sind acht per Vertrag zum eventuellen Euro-Beitritt verpflichtet. Aber am Ende wird es einige Länder geben, die in der Währungsunion sein könnten, aber es nicht wollen (Nordeuropäer wie Dänemark und Großbritannien) oder es gerne wären, aber es nicht können (Südländer wie Griechenland). Die entscheidende Rolle spielt Großbritannien - eine wichtige nordeuropäische Wirtschaft, das wichtigste Finanzzentrum Europas und einer von drei politischen Großmächten.

Die Frage stellt sich daher, wie man die Vertiefung der Eurozone mit der Gesamtarchitektur Europas verknüpfen kann. Wie kann man vermeiden, dass die Vereinigung der Eurozone zu einer Spaltung der EU führt?

Berlin will neuen EU-Vertrag

Deutschland hat darauf eine klare Antwort: Beim nächsten Gipfel im Dezember sollen alle 27 Mitgliedsstaaten Verhandlungen über einen neuen EU-Vertrag aufnehmen. Diese sollen bis zu den nächsten Bundestagswahlen 2013 abgeschlossen sein. Die Aufsicht über die Budgetpolitik der Euroländer könnten dann zumindest teilweise von den bestehenden EU-Institutionen vorgenommen werden. Und die anderen EU-Staaten - sowohl die Euro-Anwärter als auch jene, die keinen Beitritt planen - haben zumindest ein Mitspracherecht bei der Gestaltung einer neuen Struktur, die zweifellos den gesamten Binnenmarkt betreffen wird.

Das ist vor allem ein Problem für David Cameron. Der britische Premier will einerseits unbedingt dabei sein, wenn in Brüssel diese Fragen diskutiert werden - andererseits will er alles vermeiden, was wie eine weitere Übertragung von Kompetenzen an die EU interpretiert werden kann. Denn dies würde eine Volksabstimmung erzwingen, die er zu verlieren droht. Manch schlauen Mandarinen möge dann eine jesuitische Quadratur des Kreises gelingen, in dem sie behaupten, dass jede Änderung nur die Euroländer berühren würde. Aber die Euroskeptiker bei Camerons Torys würden aufschreien - und das zu Recht. Denn jede Vertiefung der Eurozone würde die Architektur der EU entscheidend verändern.

Wenn aber Cameron im Dezember einfach Nein sagt, dann lassen die Deutschen keinen Zweifel daran, dass sie trotzdem weitermachen werden - entweder durch einen Kooperationsvertrag der 17 Euroländer oder aber durch Verhandlungen mit den 24 oder 25 EU-Mitgliedern, die sehr wohl bei der Gestaltung der Eurozone mitreden wollen. Der Doyen der EU-Rechtsexperten, Jean-Claude Piris, hält beides für möglich.

Während wir uns dieser Konfrontation nähern, sollten London und Berlin innehalten und nachdenken. Die Briten sollten das deutsche Argument ernst nehmen, wonach die von ihnen im vergangenen Jahrzehnt praktizierte Haushalts-, Schulden- und Lohnkostendisziplin genau das ist, was nicht nur die Eurozone, sondern ganz Europa braucht.

Protestantische Disziplin

Wie soll man sonst mit den neuen Wirtschaftsmächten des 21. Jahrhunderts konkurrieren und dennoch die Pensionen und Gesundheitskosten für eine alternde Gesellschaft bezahlen? Es ist ironisch, dass diese harte nordeuropäische, protestantische Disziplin genau das ist, was die konservativ-liberale Regierung in London praktiziert. Sie will bloß nicht einen neuen Luther, der ihr erklärt, wie man eine Reformation macht.

Deutschland wiederum muss sich fragen, ob es wirklich erwarten kann, dass die Mehrheit der Europäer sich wie Deutsche verhält. Und wenn sie alle Spar- und Exportmeister werden, wer würde dann ihre Waren kaufen? Es muss sich auch bewusst werden, dass eine solcherart vertiefte Eurozone als ein deutsches Europa gesehen werden würde.

Vor 20 Jahren haben die Deutschen bei jeder Gelegenheit den Ausspruch Thomas Manns zitiert, er wünsche sich "nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland". Heute hört man in Berlin eine interessante Abwandlung dieses Spruchs: "ein europäisches Deutschland in einem deutschen Europa." Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Europas gibt es sicher Schlechteres als ein etwas "deutscheres Europa" in wirtschaftlicher Hinsicht. Aber man darf die Sorgen, die diese Aussicht nicht nur in Großbritannien auslöst, nicht unterschätzen. Man muss sich nur daran erinnern, wie Deutschland seine erste Chance vermasselt hat. Die Gefahren eines Vorgehens ohne Zustimmung der gesamten EU - und auch wenn nur zwei oder drei Staaten abseits stehen - sollten nicht ignoriert werden.

Deutsche, britische und andere europäische Politiker müssen in den kommenden Wochen einen Weg finden, die Eurozone zu vertiefen und dennoch die grundlegende Einheit der EU zu bewahren. Das ist leichter gesagt als getan. (Timothy Garton Ash, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 11.11.2011)