In den frühen 1980er-Jahren machte ein neuer Begriff unter österreichischen Katholiken die Runde. Man sprach plötzlich verstärkt von Basisgemeinden und dachte dabei vor allem an Lateinamerika, wo sich parallel zu einer Theologie der Befreiung schon seit einer Weile solche neuen Gemeindestrukturen "von unten" entwickelt hatten.

Aber auch in Österreich war die eine oder andere von diesen Gemeinden entstanden, in denen die geläufige Hierarchie von Klerus und Volk von der Basis her neu gedacht wurde. In der Machstraße im 2. Bezirk gab es eine solche Basisgemeinde schon seit 1973, sie stand unter der Leitung von Paul Weß, und an manchen Sonntagen kamen Gläubige aus der ganzen Stadt in den modernen Kirchenbau, um sich mit dieser neuen Form von Kirche vertraut zu machen. Mit dem Pontifikat von Johannes Paul II. wurde dann viel von der Globalisierung der Kirche nach dem Zweiten Vatikanum zurückgenommen, die zentralen Institutionen, aus denen dann ja auch der gegenwärtige Papst hervorging, gewannen wieder an Gewicht, und in Österreich wurde durch eine Reihe kontroverser Bischofsbestellungen viel von dem Aufbruchsgeist zerstört.

Paul Weß blieb bis 1996 in der Machstraße, wobei er immer schon gleichermaßen als Seelsorger wie als Theologe wirkte. 1989 habilitierte er sich in Innsbruck im Fach Pastoraltheologie, an diesem Institut ist er auch heute noch tätig. In dem Band Glaube aus Erfahrung und Deutung. Christliche Praxis statt Fundamentalismus, in dem mehrere größere Texte von ihm zusammengefasst sind, geht er allerdings über die Grenzen seiner wissenschaftlichen Disziplin deutlich hinaus und spricht als christlicher Intellektueller, als Kirchenreformer, als philosophischer Theologe und markant auch als Kritiker der Dogmatik. So heißt in der Theologie das zentrale Fach der Glaubenslehre im eigentlichen Sinn.

In dem Text War Jesus wirklich "als Mensch" Gott? rührt Paul Weß an die Grundlagen des Dogmas, und er tut dies in direkter Auseinandersetzung mit der Theologie des gegenwärtigen Papstes Benedikt XVI., für den das Christentum in Europa "seine geschichtlich entscheidende Prägung" gefunden hat. Dagegen hält Weß eine Rückbesinnung auf die biblische (das heißt auch: jüdisch-christliche) Tradition, die ihn zu dem Satz bringt: "Die Gültigkeit der Dogmen muss hinterfragt werden." In einer Auseinandersetzung mit den ausgeklügelten begrifflichen Lösungsversuchen für das Verhältnis von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist in der Dreifaltigkeit (oder: Dreieinigkeit) kommt Weß zu dem Schluss, dass nicht alle Definitionen, die im Lauf der Zeit gefunden wurden, wirklich das letzte (meist griechische) Wort bleiben müssen: Er verficht dagegen "auch gegenüber dem Lehramt eine Gewissensfreiheit der einzelnen Gläubigen (...), die jedoch unter dem Anspruch der Einmütigkeit stehen".

Daraus resultieren allerdings jene Probleme, auf die das Lehramt gerade mit autoritativen Aussagen eine Antwort geben wollte. Der Anspruch der Einmütigkeit steht im Zeichen jener Vorläufigkeit und "Abhängigkeit", die Weß in einem Text über Konturen einer nachidealistischen philosophischen Theologie auf den Begriff der "Kontingenz" bringt.

Damit ist gemeint, dass in der Welt kein endgültig fester Boden unter den Füßen zu gewinnen ist - das beginnt schon mit der nicht selten schwierigen Beziehung zu den Eltern, und führt bei Weß über eine "lebensweltliche Praxis-Erfahrung" nicht zu einem Gottesbeweis, wie ihn die traditionelle Philosophie häufig führen wollte, sondern zu einem Gotteserweis. Dieser Gotteserweis sucht ein Wirken Gottes zu demonstrieren, das in seinen Spuren immer mehrdeutig bleibt - wie auch anders, wenn der Glaube sich nicht ins Wissen überheben will?

Das Buch von Paul Weß schließt mit Überlegungen zur Strukturreform der katholischen Kirche und einer bedenkenswerten Reflexion über eine "Seele" der Europäischen Union. Auch hier erweist der praktische Theologe sich als Seelsorger, wenn er sich in der Diskussion über eine Aufnahme Gottes bzw. des Gottesbegriffs in die europäische Verfassung dagegen ausspricht - und zwar einfach deswegen, weil dies auf Erfahrungen zurückginge, "die nicht alle gemacht haben".

In dieser Formulierung schwingt eine leise Hoffnung mit, dass sich das gegen den epochalen Trend des Glaubensverlusts noch einmal ändern könnte. Wenn dem so sein soll, dann ist es sicher nicht verkehrt, bei den modernen Erfahrungen anzusetzen, wie Paul Weß es tut, und nicht bei der Autorität einer Tradition, die sich hinter den Begriffen des Dogmas versteckt.  (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.11.2011)