Im Stück "Verrücktes Blut" versucht eine der Lehrerinnen ihren disziplinlosen Schülern mit Migrationshintergrund Friedrich Schiller und seine idealistischen Vorstellungen nahe zu bringen.

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"Warum wir kein Migranten-Theater" brauchen, erklärt der Herausgeber Wolfgang Schneider gleich zu Beginn seiner Einleitung: Statt "Spezialprogrammen" und einzelnen Stücken zum Thema Migration sollte es generell multiethnische Bühnen und Produktionen geben - wodurch auch ein breiteres Publikum angesprochen werden könne. Kunst und Kultur sind aus seiner Sicht für "interkulturellen Dialog" unverzichtbar. Theater sieht Schneider als Chance für die Auseinandersetzung mit dem Fremden und als Ort der Partizipation. Voraussetzung dafür ist, dass alle gesellschaftlichen Gruppen teilnehmen können.

Theater als Ort der Teilnahme

Die Möglichkeit für gleichberechtigte Teilnahme - auch am Theater - ist stark durch soziale Faktoren bestimmt. Birgit Mandel macht in ihrem Beitrag deutlich, dass Bildung und die soziale Stellung wichtige Faktoren dafür sind, ob jemand Kulturangebote nützt. Zugleich muss sich der Kulturbetrieb darauf einstellen, dass der wachsende Anteil von Menschen mit "Migrationshintergrund" Veränderungen mit sich bringt. Daher stelle sich "die substanzielle Frage", so Mandel, "wie der kulturelle Reichtum, den die Mitbürger migrantischer Herkunft in unsere Kultur mitbringen, erschlossen werden kann". Dass aber die Fiktion einer "deutschen" oder "österreichischen" Kultur höchst lebendig ist, zeigt sich auch in Mandels Beitrag: "wir" und "sie" - offenbar ein schwer zu überwindendes Denkmuster.

"Verrücktes Blut"

Ein in mehreren der Beiträge genanntes Beispiel für ein gelungenes "postmigrantisches Theater" ist das Stück "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat und Jens Hillje, das 2010 bei der Ruhrtriennale Premiere hatte und mit großem Erfolg im Ballhaus Naunynstraße in Berlin gezeigt wurde. Satire ist hier das Mittel der Kritik an gängigen Klischees über die Menschen, de facto Männer "mit Hintergrund", die laut sind, Dreck machen, Frauen unterdrücken und potenzielle Drogenhändler oder Selbstmordattentäter sind. Was da dem politischen Mainstream entsprechend hilft, ist, so zeigt auch die hiesige Debatte, nur (eine bestimmte Art von) Bildung allein.

Auf die Bühne gezwungen

Im Stück "Verrücktes Blut" versucht eine der Lehrerinnen, auf denen die Hoffnung der Nation ruht, ihren disziplinlosen Schülern mit Migrationshintergrund gerade Friedrich Schiller und seine idealistischen Vorstellungen nahe zu bringen, als ihr in einem Handgemenge in der Klasse eine echte Pistole in die Hände fällt. Sie nimmt ihre Schüler als Geiseln und zwingt sie auf die Schulbühne. Fast folgt ist eine ab- und tiefgründiger Achterbahnfahrt der Genres - vom Thriller über die Komödie zum Melodrama. Beim Spiel im Spiel werden Identitäten vertauscht, Schillers Texte erhalten neue Bedeutung: Die SchülerInnen eigenen sich die "Klassiker" an, "um ihre eigene Situation zu beschreiben". Sharifi interpretiert das Stück als Prozess, in dem Zuschreibungen in Frage gestellt werden, alte Traditionen angenommen und mit anderen Sichtweisen konfrontiert werden.

Wir alle sind Wien

Das Berliner Ballhaus in der Naunynstraße ist ein Beispiel für einen Kulturbetrieb, der das Beiwort "migrantisch" nicht braucht und in der Vielfalt der Menschen und Hintergründe das realisiert, was sonst oft nur halbherzig beschworen wird: Partizipation.

Im Sammelband haben auch Produktionen und Gruppen aus Österreich Vorbildfunktion. Die Gruppe "daskunst" zählt dazu. Die Vielfalt der Themen, der Theaterformen, die bei der Wiener Gruppe "daskunst" eine Rolle spielen, betont Heinz Wagner in seinem Beitrag "Wir alle sind Wien". Dass diese Vielfalt oft weniger wahrgenommen wird, als die Herkünfte der Mitglieder, kritisiert er. Auch hier spielt neben den immer selben Zuschreibungen durch KulturjournalistInnen die Kulturpolitik eine Rolle: Subventionen gibt es dann, wenn die interkulturelle Zuschreibung erfüllt wird. "Für ihre multimediale Theaterarbeit sollte es die finanzielle Unterstützung geben, nicht für versteckte Sozialarbeit", so Wagner.

Resümee

Gerade der Blick auf Kulturpolitik und die Kritik an gängigen Denkmustern und Diskursen machen die Qualität der meisten in diesem Buch versammelten Beiträge aus. Manche thematischen und argumentativen Überschneidungen sind wohl nicht zu vermeiden und in Summe ist der Band "Theater und Migration" ein gelungenes Handbuch zum Gegenwartstheater. Die Vielfalt der "Hintergründe" der AutorInnen, der vorgestellten Projekte macht dieses Buch auch glaubwürdiger als andere, die "Migration" im Titel tragen. (Meri Disoski, daStandard.at, 14. November 2011)