Illustration: Andrea Maria Dusl

"So weit soll's noch kommen, dass mir ein Tschusch die Welt erklärt", schnaubt Herr Karl und wirft die Kronen Zeitung quer über den Mittagstisch. Wir schreiben das Jahr 2020, und die Kolumnistin Adrijana Sokolović nimmt seit Wochen unermüdlich die Irrungen und Wirrungen der überforderten rot-blauen Stadtregierung auseinander. Die Jugendsprecherin der Blauen, Ayse Yilmaz, hat in der gestrigen ORF-Diskussion "Wir und die Anderen" erneut über die "unbelehrbaren anatolischen Hirten", die niemals "in unserer Gesellschaft angekommen sind", gewettert.

Adrijana Sokolović pflichtet bei und legt nach: Frau Yilmaz soll aber auch ihre eigene Wählerschaft nicht vergessen, nämlich die einstigen "wohlstandsverwahrlosten Kinds aus den Randbezirken, die sich als unintegrierbare Modernisierungsverlierer in unsere ohnehin dünn gewordene soziale Hängematte gelegt haben". Morgen wird dann auch der in die Jahre gekommene Bürgermeister sein Fett abbekommen, schließlich will Sokolović Karriere machen und bald Sprecherin der roten Bundeskanzlerin Elena Mamademos werden. Willkommen in der multikulturellen Zukunft!

Noch sieht es bei uns freilich ganz anders aus. Das mediale Bild der Migrantinnen und Migranten schwankt zwischen reißerischen Hiobsbotschaften auf den Titelseiten der Boulevardblätter, Vorzeigebiografien der "Fleißigen, Leistungswilligen" und sentimentalen Berichten über Zuwanderer als ewige Opfer. Selbstbestimmte Bilder aus der Feder jener, über die debattiert und geurteilt wird, tauchen erst langsam auf. Bis Zuwanderer und ihre Nachkommen die eigene Stimme in den Mainstream-Medien durchgesetzt haben, muss noch viel Wasser die Donau hinunterfließen.

Ähnlich wie die Medien sendet auch die Politik widersprüchliche Botschaften aus. Die Linken wollen das dankbare Thema der Integration nicht mehr den Ultrarechten überlassen, also stürzen sie sich planlos in die Debatte, und die vermeintlichen Heimatverteidiger treiben sie mit Argumenten und aggressiver Rhetorik vor sich her. Dass sie dann weder von eigenen Wählern noch vom politischen Gegner erst genommen werden, darf sie genauso wenig wundern wie der schadenfrohe Spott aus dem rechten Lager.

Überhört man die vereinzelten Zurufe der "Links-Linken", die, ob des zu hohen Multikulti-Traum-Gehalts, erst recht unglaubwürdig klingen, kann man dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek getrost zustimmen und vom antimigrantischen Mainstream in Österreich und Mitteleuropa sprechen.

In dieser Stimmung erscheinen sogar stockkonservative Ansätze wie "Leistung statt Herkunft" als erfrischend konstruktive Zugänge zu einem Thema, das mittlerweile omnipräsent ist, aber allem Anschein nach nicht wirklich vom Fleck kommt.

Es hat lange gedauert, bis es in Österreich einen Konsens gab, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Jahrzehntelang war das Thema Integration bestenfalls eines für den Sozialarbeiter- und Soziologen-Stammtisch. Die politische Debatte wurde jahrelang von der Gegenreaktion mit verhetzenden "Ausländer raus!"-Parolen angetrieben. Derzeit gibt es erste konstruktive Ansätze zur Abschwächung der Polemiken von rechts und links, aber noch bewegen wir uns auf dem Terrain ethnischer und kultureller Zuschreibungen. Wünschenswert wäre eine offene Diskussion über die Struktur unserer Gesellschaft, in der sozialer Aufstieg nur in Ausnahmefällen denkbar ist.

Postmigrantische Biografien

Die Probleme, die Jugendliche der zweiten und dritten Generationen zu bewältigen haben, können wir nur teilweise auf ihre postmigrantischen Biografien zurückführen. Mangelnde Qualifikationen und damit verbundene Schwierigkeit beim Einstieg in den modernen, dienstleistungsdominierten Arbeitsmarkt sind typische Probleme der Unterschicht. Gab es für unqualifizierte Gastarbeiter noch genügend Arbeitsstellen, sind diese für ihre Nachkommen, die keinen Bildungsaufstieg geschafft haben, bestenfalls in Nischen der Bau- und Gastronomiebranche vorhanden. Das gilt natürlich ebenso für Berufseinsteiger aus bildungsfernen autochthonen Familien.

Mit der Ethnisierung und Kulturalisierung sozialer Probleme lässt sich keine erfolgreiche Politik machen. Auch Maßnahmen, die darauf abzielen, vermeintliche kultur- oder gar religionsspezifische Probleme zu beheben, führen in die Sackgasse. So kommt es zu absurden Debatten, in denen sich linke Feministinnen zusammen mit rechten Populisten für die Rechte der unterdrückten "Kopftuchmädchen" einsetzen. Beide Kräfte in dieser seltsamen Allianz betrachten die Migrantinnen und Migranten nicht als gleichberechtigte Gruppe, sondern bestenfalls als eine aus homogenen Communitys bestehende, unmündige Masse, die in die jeweils eigene Wertestruktur gepresst wird.

Es wird gerne vergessen, dass die zweite und dritte Generation der Einwanderer teilweise einen rasanten Wertewandel durchmachen musste und oft zwischen den Erwartungen der womöglich traditionsbewussten Familien und des österreichischen Alltags aufgerieben wird. Die so mühevoll entstandenen Multiidentitäten können als Kollateralschäden der Migrationsprozesse oder als große Chance für die gesamte Gesellschaft betrachtet werden.
Weiter kommen wir nur, wenn wir uns als Gesellschaft auf Werte und Ziele einigen, die für einen Großteil lebbar sind. (Olivera Stajić, daSTANDARD, 14. November 2011)