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Polizisten stehen vor jenem Internetcafé in Kassel, in dem 2006 der Deutschtürke Halit Y. erschossen wurde – vermutlich von  Mitgliedern der Neonazi-Terrorgruppe NSU.

Foto: AP/Soremski

Berlin - Ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes soll bei mindestens sechs Morden mit neonazistischem Hintergrund in der Nähe der Tatorte in Deutschland gewesen sein, bei einem Mord 2006 in einem Internetcafé in Kassel war er zur Tatzeit im Geschäft. Der mittlerweile suspendierte Beamte ist in seinem Heimatdorf als "kleiner Adolf" bekannt. Auch ein weiterer mutmaßlicher Helfer der Neonazi-Terrorgruppe NSU, die mindestens zehn Morde begangen haben soll, wurde amDienstag bekannt. Die Kritik an Spitzeln wird immer lauter, ein Verbot der Rechtspartei NDP wird diskutiert.

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Am 6. April 2006 stirbt der 21-jährige Halit Y. in seinem Internetcafé im hessischen Kassel. Er wird, wie schon andere türkische Kleinunternehmer zuvor, von zwei Kugeln aus einer Pistole der Marke Ceska, Kaliber 7,65 Millimeter, in den Kopf getroffen. Es war der letzte der sogenannten "Döner-Morde".

Die Polizei ruft damals alle Besucher, die zur Tatzeit im Café waren, auf, sich als Zeugen zu melden. Fünf Personen kommen diesem Aufruf nach, einer jedoch fehlt. Als dieser zehn Tage später gefunden wird, stellt sich heraus: Der Mann arbeitet für den hessischen Verfassungsschutz. Er will vom Mord nichts mitbekommen haben und gibt an, das Café eine Minute zuvor verlassen zu haben.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) berichtet, dass dies nicht stimme, dass der Mann auch bei dem Mord anwesend gewesen sei. Laut Bild-Zeitung hat ein Bewegungsprofil des mittlerweile suspendierten Staatsschützers ergeben, dass er bei sechs der insgesamt neun "Döner-Morden" in der Nähe der Tatorte war.

Thomas Oppermann (SPD), der Obmann des für die Geheimdienste zuständigen Kontrollgremiums im Bundestag, bestätigte am Dienstag, dass der Verfassungsschützer in Kassel zumindest im Café war, und beschreibt ihn so: "Er hat eine offenkundig stark rechte Gesinnung."

Die FAZ schreibt, der Mann sei in seinem nordhessischen Heimatort als "kleiner Adolf" bekannt und gelte als Waffennarr. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung nach dem Mord in Kassel seien nicht nur Waffen, sondern auch Auszüge aus Adolf Hitlers Mein Kampf gefunden worden.

Das Entsetzen im Bundestag war am Dienstag groß. "Es ist eigentlich undenkbar, dass der Verfassungsschutz in irgendeiner Weise an rechtsextremen Aktionen mitwirkt", sagte Oppermann, der zudem mitteilte, dass die Thüringer Zelle aus Uwe B., Uwe M. und Beate Z. weitere Helfer hatte.

Das ARD-Magazin Fakt nennt den im thüringischen Johanngeorgenstadt lebenden Neonazi Matthias D. als Unterstützer. Er soll für das Trio, das sich "Nationalsozialistischer Untergrund" nannte, Wohnungen angemietet haben. Am Mittwoch könnten weitere Details über die Täter bekannt werden: Laut Stuttgarter Nachrichten will die inhaftierte Beate Z. aussagen.

In Thüringen wurde am Dienstag eine unabhängige Kommission eingesetzt, die die Arbeit des Verfassungsschutzes klären soll, warum die Behörde von der Existenz der Nazizelle keine Ahnung hatte (oder keine Ahnung haben wollte). Den Vorsitz übernimmt der ehemalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Gerhard Schäfer.

Immer mehr infrage gestellt wird der Einsatz von V-Leuten beim Verfassungsschutz. "Ein Instrument, das uns nichts bringt, das brauchen wir auch nicht", sagt Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU). SPD-Politiker Oppermann erklärt, es könne nicht sein, dass an der Spitze von Neonazi-Organisationen "vom Staat bezahlte Informanten sind".

Während die CDU und SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier dafür sind, die Möglichkeiten für ein neues NPD-Verbot auszuloten, ist Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) skeptisch: Dazu müssten zuerst V-Leute abgezogen werden, das sei "außerordentlich riskant". (Birgit Baumann aus Berlin/DER STANDARD, Printausgabe, 16.11.2011)