Viviane Reding (li.) und Beatrix Karl über das europäische Problem der ungleichen Bezahlung von Männern und Frauen: Sozialpartner und Betriebsräte sollen "sensibilisiert" werden.

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Standard: Frau Kommissarin, Beobachter meinen, die bestimmenden Kräfte bei der Bewältigung der Krise seien Deutschland und Frankreich gewesen. Die EU-Kommission sei zu zögerlich vorgegangen. Ist an dieser Kritik etwas dran?

Reding: Wenn Sie damit meinen, wer vor den Medien am lautesten sprach, dann haben Sie recht. Wenn Sie aber darauf achten, wer im Hintergrund die richtigen Instrumente auf den Tisch legte, dann können Sie die EU-Kommission nicht übersehen. Im September 2010 hat die Kommission alle Instrumente, die es brauchte, auf den Tisch gelegt - etwa zur Überwachung der nationalen Haushalte, ehe diese aus dem Ruder laufen. Wir wurden damals von den Mitgliedstaaten gebremst. Es wurde ein Jahr vergeudet, bis im August, am Höhepunkt der Krise, unser Vorschlag angenommen wurde. Insofern war die Krise eine Chance.

Standard: Sie engagieren sich sehr für Frauenquoten in Aufsichtsräten ein. Österreich setzt auf eine freiwillige Verpflichtung der Unternehmen. Wie beurteilen Sie das?

Reding: Ich habe das mit Frauenministerin Heinisch-Hosek besprochen. Sie setzt sich sehr dafür ein, dass staatsnahe Betriebe jährlich transparent machen müssen, wie sich ihre Personalstruktur entwickelt. Da geht Österreich in die richtige Richtung. Aber was ist das Problem? Seit Jahrzehnten mahnen wir, dass wir überall mehr Frauen brauchen. Aber es hat sich wenig getan. Das ist gesellschaftlich, sozial, aber vor allem ökonomisch ein Unding. Wir können uns nicht leisten, 60 Prozent der Frauen, die einen Uni-Abschluss haben, im Laufe der Zeit zu verlieren. Im Frühjahr lege ich dem Europaparlament eine Analyse und meine Schlussfolgerungen vor. Ich bin nicht quotenbegeistert, aber mich begeistert, was Quoten bewirken können.

Standard: Frau Ministerin, warum ist die ÖVP gegen Quoten in Aufsichtsräten? Es geht ja auch in Österreich nichts weiter.

Karl: Mir ist das Thema sehr wichtig, ich hoffe, dass uns ein Fortschritt mit der freiwilligen Verpflichtung gelingt. Die EU hat in dieser Hinsicht besondere Bedeutung. Das Gebot "gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit" war von Anfang an in den europäischen Verträgen. Und es sind sehr viele Anstöße vom Europäischen Gerichtshof ausgegangen - etwa auch bei den Quotenregelungen, wo der EuGH sehr darauf achtet, dass die nicht zu starr sind. Ich hoffe, dass hier weiterhin Impulse kommen.

Standard: Einer der Impulse ist der Vorstoß von Frau Reding, die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen transparent zu machen. Sind Sie dafür?

Karl: In Österreich gilt ab 1. Jänner die Regelung, dass bei Job-Ausschreibungen die Höhe des Gehalts angegeben werden muss. Das ist ein erster Schritt in Richtung Transparenz und Kontrolle. Die Einkommensschere ist ein großes Problem. Dass sich Frauen häufig für sogenannte Frauenberufe entscheiden und dass es so viele Frauen in Teilzeitjobs gibt, sind zwei Gründe. Da würde ich mir kreativere Arbeitszeitmodelle wünschen. Zudem sehe ich nicht ein, dass man mit einem Teilzeitjob nicht Karriere machen kann. In anderen Ländern, etwa in den Niederlanden, geht das ja auch.

Reding: Es ist interessant, wenn man die Zahlen ansieht. Frauen werden Mütter, aber Männer anscheinend kaum Väter. Wenn ein Paar drei Kinder bekommt, ist die Beschäftigungsquote der Frau im europäischen Schnitt um 30 Prozentpunkte niedriger als die vom Mann. Man könnte fast meinen, Männer flüchten aus dem Haus.

Standard: Wie wollen Sie die Einkommensschere schließen? Der österreichische Sozialminister überlegt sogar, eigene Kollektivvertragsrunden für Frauen einzuführen.

Reding: Ich werde mich nicht in österreichische Angelegenheiten einmischen. Aber ich glaube schon, dass wir den Sozialpartnern bewusst machen müssen, welch wichtige Rolle sie in diesem Bereich spielen.

Karl: Besonders die Betriebsräte. Die haben Einsicht in alle Lohnunterlagen eines Unternehmens. Man muss sie mehr sensibilisieren, die können das Unrecht am besten aufzeigen.

Standard: Sie wollen auch das Vertrauen der EU-Bürger in das Justizsystem stärken. Nun gibt es sehr große Unterschiede zwischen europäischen Rechtssystemen. So musste etwa ein der Schmiergeldzahlungen verdächtiger Waffenlobbyist in Österreich aus der U-Haft entlassen werden, weil sich die britische Firma, für die er lobbyiert hat, in Großbritannien mit einer Ausgleichszahlung vor Strafverfolgung schützte. Denken Sie, dass so etwas das Vertrauen der Bürger in die Justiz stärkt?

Reding: Das ist eine schwierige Frage. Denn hier geht es ja um das Rechtsverständnis in den Mitgliedsstaaten. Und dies ist über die Jahrhunderte gewachsen. Das können und wollen wir nicht abschaffen. Seit dem Lissabonner Vertrag gibt es aber nun die Funktion der EU-Justizkommissarin. Davor waren Justizfragen reine nationale Zuständigkeit. Ich sehe mich primär als Brückenbauerin. Zwischen den Staaten müssen Mindestregeln eingeführt werden. Wir haben gerade eben das Recht auf Belehrung als EU-weiten Standard eingeführt. Dazu gehört aber auch, dass wir bis 2020 700.000 Rechtspraktiker ausbilden wollen, damit die über das Recht der Nachbarn und der EU Bescheid wissen. So schaffen wir gegenseitiges Vertrauen zwischen den Justizsystemen.

Karl: Abgesehen vom Strafrecht ist bei europäischer Justizpolitik zudem noch eine weitere Dimension ganz entscheidend: Unsere Lebenswege gestalten sich immer häufiger über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg. Die große Aufgabe für uns ist, Menschen konkrete Erleichterungen für ihren zunehmend mobilen Lebensstil zu schaffen, denken Sie an Eheschließungen oder Erbschaften. Von diesen Vorteilen Europas reden wir zu wenig.

Standard: Könnte am Ende dieses Prozesses ein EU-weit geltendes Strafrecht stehen?

Reding: Nein. Wir greifen bestimmt nie in die Souveränität eines nationalen Staates ein. Meine Kompetenzen liegen im grenzüberschreitenden Bereich, etwa in der grenzüberschreitenden Drogenkriminalität. Wir haben das Problem, dass in manchen Staaten sehr liberale Regelungen gelten, die Strafverfolgung über Grenzen schwierig machen. Deshalb haben wir jetzt einen Aktionsplan gemacht. Wir legen EU-weit fest, was unter grenzüberschreitender Drogenkriminalität zu verstehen ist. Dann wird die Arbeit der Staatsanwälte und der Polizeibehörden nicht mehr an der Grenze aufhören. Ich habe eineinhalb Jahre gebraucht, um die gefährliche synthetische Droge Mephedron zu verbieten. Dabei wird jede Woche eine neue synthetische Droge erfunden. Da müssen wir schneller werden. Ich kann in diesem Zusammenhang der Ministerin nur gratulieren, wie schnell sie das vorweggenommen hat, was wir jetzt in Europa machen in Bezug auf Kinderschutz.

Standard: Was Experten sehr beklagen. Richter empfinden Mindeststrafen als Eingriff in ihre Entscheidungsfreiheit.

Karl: Es geht eben auch darum, dieses besondere Unrecht zum Ausdruck zu bringen. Dass manche befürchten, dass es deshalb weniger Anzeigen geben wird, halte ich für überzogen. Wenn einem Kind Gewalt angetan wird, wird doch hoffentlich niemand überlegen, ob angezeigt wird oder nicht. Da darf es null Toleranz geben.

Standard: Zuletzt gab es schwere Verstimmungen wegen des Falls Golowatow. Österreich ließ einen Ex-KGB-Mann und Kriegsverbrecher laufen, der in Litauen gesucht wird. Sie sagten damals zwar, Österreich habe rechtlich einwandfrei gearbeitet, aber es gebe noch die "politische Dimension". Bleiben Sie dabei: Hat Österreich hier unsensibel agiert?

Reding: Diese Affäre war ein Weckruf. Wir haben das auch im EU-Justizministerrat diskutiert, denn wir sollten ja alle lernen aus solchen grenzüberschreitenden Fällen. Wir haben zwar europäische Gesetze für solche Fälle, doch in diesem Falle - es ging um den Europäischen Haftbefehl - waren in einigen Staaten Ausnahmen vorgesehen. Diese Staaten haben ihr Wort gegeben, dass diese Ausnahmen nun abgeschafft werden und dass man das nächste Mal zum Telefon greift, bevor etwas eskaliert.

Standard: Frau Karl, greifen Sie künftig zum Telefon?

Karl: Der litauische Justizminister und ich haben eine gemeinsame Erklärung abgegeben. Wir haben uns ausgesprochen, die Sache ist ausgeräumt. (Petra Stuiber, DER STANDARD/Printausgabe 18. November)