Bild nicht mehr verfügbar.

Gehen lernen in China: Die Mutter hat einen speziellen Schultergurt für den Nachwuchs, der - wie es sich für das Reich der Mitte gehört - in einer "Schnellfeuerhose" steckt, die viel Beinfreiheit hat.

Foto: APA/Lübke

Rom/Wien - Es ist eine erstaunliche Reaktion: Wenn ein Neugeborenes auf die Füße gestellt und aufrecht gehalten wird, versucht es zu laufen. Zumindest sieht es so aus. Die Beinchen beginnen zu stapfen, ungelenk zwar, aber mit deutlichem Schwung. Natürlich kann so ein Säugling nicht wirklich gehen, dafür fehlen ihm schlichtweg noch Balance und Koordination. Es ist ein Reflex, ähnlich wie das angeborene Greifen, und er verschwindet in der Regel vier bis sechs Wochen nach der Geburt wieder. Bis das Kind Monate später langsam mit dem Laufenlernen anfängt.

Der italienische Neurophysiologe Francesco Lacquaniti ist von dem Phänomen fasziniert. Den Stapfreflex, erklärt der an der Uni Rom tätige Forscher, gebe es auch bei Babys, bei denen wegen einer Missbildung das Gehirn fehlt. Dementsprechend muss die Steuerung des Säuglingsstapfens irgendwo im Rückenmark angesiedelt sein. Das wiederum lässt einen evolutionsbiologisch gesehen primitiven Neuromechanismus vermuten. Ist die Basis des aufrechten Gangs vielleicht gar keine neue Errungenschaft, exklusiv für den Menschen und seinen unmittelbaren Vorfahren?

Zur Beantwortung dieser Frage führte Francesco Lacquaniti und sein Forscherteam mit verschieden alten Kindern sowie Erwachsenen eine Serie von Tests durch. Die Probanden bekamen Elektroden an ihre Beine geklebt und führten dann normale Gehbewegungen durch. Dank der Verdrahtung konnten die Forscher dabei genau die neuroelektrische Reizung der Muskeln messen - mit überraschenden Ergebnissen.

Bei zwei bis sieben Tage alten Babys gab der Signalverlauf den Stapfreflex mit zwei unterschiedlichen Grundmustern wieder. Die Muskelreizung findet gleichmäßig, auf dem Monitor zeigen sich wellenartige Kurvenverläufe. Bei den Erwachsenen dagegen gibt es vier verschiedene Signalmuster. Hier ist der Reiz pulsartig. "Das ermöglicht ein schnelleres Kontrahieren und Entspannen der Muskeln", erklärt Lacquaniti auf STANDARD-Nachfrage. Für komplexere Bewegungsabläufe eben.

Besonders interessant sind indes die Messkurven von Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter. Hier zeigen sich nicht nur die Vorstufen von zwei der Erwachsenen-Signalmuster, sondern auch die graduelle Entwicklung der beiden Säuglingskurven zu immer stärker differenzierten Signalabläufen. Das heißt: Der Stapfreflex bildet offenbar eine wichtige Grundlage für die neurologische Steuerung des aufrechten Gangs, wie die Forscher im Fachblatt Science (Bd. 334, S. 997) schreiben.

Verblüffendes entdeckten sie auch beim Vergleich der Reizkurven von laufenden Ratten, Rhesusaffen, Katzen und Perlhühnern mit denen von Kleinkindern. Es zeigte sich bei allen eine sehr große Ähnlichkeit aller vier Grundmuster, und im Rückenmark neugeborener Ratten finden sich praktisch identische Reizkurven wie beim Stapfreflex von Säuglingen. Die neurologische Basis des Laufens dürfte somit bereits vor mehr als 100 Millionen Jahren entstanden sein, meint Francesco Lacquaniti. Der Mensch konnte deshalb bei seiner Evolution auf Altbewährtes aufbauen und fügte neue, verfeinerte Steuerungsmechanismen hinzu. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.11.2011)