Die Polizei in Seattle setzt wahllos Pfefferspray gegen die Occupy-Aktivisten ein.

Foto: Justin Truijillo

Dorli Rainey wird im Gesicht verletzt.

Foto: Justin Truijillo

"In Wirklichkeit sehe ich nicht so schlecht aus."

Foto: Justin Truijillo

Über zwei Monate lang bleibt die Bewegung Occupy Wall Street gesichtslos. Nichts Ungewöhnliches, repräsentieren die Teilnehmer nach eigenen Angaben doch die "99 Prozent". Die, die sich dem einen, dem bösen Prozent, den gierigen Bankern, dem ungerechten Sozialgefüge und dem Machtapparat von Wirtschaft und Politik entgegenstellen. Seit wenigen Tagen aber hat die Bewegung ein Gesicht. Und einen Namen: Dorli Rainey. Die 84-jährige gebürtige Österreicherin ist von oben bis unten mit Pfefferspray besprüht, von ihrem Gesicht tropft ein Gemisch aus chemischer Substanz und einer Lösung zur Wundheilung. Es ist der Moment, als Justin Truijillo in Seattle den Auslöser seiner Kamera drückt. Das Foto verbreitet sich in Windeseile über Twitter und Facebook rund um den Globus und löst Entsetzen und Verstörung aus.

"Es ist ein grauenhaftes Bild. In Wirklichkeit sehe ich nicht so schlecht aus." Humor versprüht die alte Dame immer noch. Im TV-Interview mit einem US-Regionalsender schildert sie die nächtliche Aktion. Demnach seien sie und andere Demonstranten brutal zusammengepfercht worden. Eine Flucht dadurch unmöglich. Rainey: "Wir konnten uns kaum mehr bewegen." Ohne Vorwarnung, wahllos und aus nächster Nähe setzt die Polizei Pfefferspray ein. Eine junge schwangere Frau wird getroffen, ein Priester und Rainey. Jeff Kapel, Sprecher der Polizei in Seattle, findet stramme Worte, die an einen Beipackzettel für Kopfschmerz-Tabletten erinnern: "Pfefferspray wirkt für jedes Alter gleich. Er ist für einen Zehnjährigen nicht gefährlicher als für einen 80-Jährigen."

Der Bürgermeister der Stadt bemüht sich um Schadensbegrenzung. Mike McGinn entschuldigt sich bei den verletzten Aktivisten, telefoniert mit Rainey und drückt ihr sein Mitgefühl aus. Doch für Rainey zählen Taten, nicht Worte. Sie macht nicht McGinn für die polizeiliche Willkür verantwortlich, sondern verurteilt ganz allgemein den Anstieg an Brutalität durch die Exekutive. "Pfefferspray ist sehr, sehr schmerzhaft. Ich spüre immer noch ein Stechen in der Lunge und meine Stimme ist heiser", so die alte Dame im Interview mit democracynow.com. "Doch die Attacke gegen mich ist nicht das Thema. Das Problem ist, dass die Aggression gegen die Aktivisten zunimmt, anstatt nach einer sinnvollen Lösung zu suchen."

Österreich kehrte Rainey 1956 den Rücken. In der US-Talkshow Talking Stick erklärt sie: "Es ist ein wunderbares Land, aber es ist ein wirklich sehr bürokratisches Land." Stillsitzen und Ausharren sind nicht ihres. "Es wäre so leicht zu sagen, nun, ich werde in den Ruhestand gehen, vor dem Fernseher sitzen und Bonbons essen, aber jemand muss erzählen, was wirklich los ist in dieser Welt." Gern zitiert sie den Rat der verstorbenen katholischen Nonne und Aktivistin Jackie Hudson: "Geh einen Schritt weiter, raus aus der Bequemlichkeit." Als Lehrerin kandidiert Rainey in den 1970-er Jahren für den Gemeinderat, verliert aber. Vor zwei Jahren will sie es noch einmal wissen und Bürgermeisterin von Seattle werden, überlegt es sich dann doch anders. "Vielleicht bin ich doch schon etwas zu alt." Politisch hat sie nie aufgehört, sich zu engagieren. Immer noch setzt sie sich für Frauenrechte ein und gegen Gewalt. "Ich bin Dorli und ein Rundum-Unruhestifter", schreibt sie in ihrem Blog "Old Lady in Combat Boots".

Eine engagierte Frau, mehr als ein Gesicht und ein Name. (derStandard.at, 18.11.2011)