Ágnes Heller (82) ist eine der bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart. In Budapest geboren, entging sie als Kind Auschwitz nur knapp. Politisch verfolgt, emigrierte sie 1977 nach Australien. 1986 wurde sie Hannah Arendts Nachfolgerin an der New School of Social Research, New York. Ágnes Heller war auf Einladung der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität (Abt. Finno-Ugristik) in Wien.

Foto: Standard/Newald

Mit Heller sprachen Klaus Taschwer und Josef Kirchengast.

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STANDARD: Sie gelten als eine der wichtigsten Kritikerinnen der Regierung Orbán in Ungarn. Wie kam es dazu, und was motivierte Sie?

Heller: Ich bin malgré moi zu dieser Rolle gekommen, also gegen meinen Willen. Meine eigentlichen Lebens- und Lieblingsbeschäftigungen sind die Philosophie und die Ästhetik. Doch was jetzt in Ungarn passiert, das widerspricht meiner Idee der Freiheit, die für mich immer das höchste Gut war. Deshalb war ich auch schon Gegnerin des (kommunistischen) Kádár-Regimes. Nun bin ich es auch wieder, weil ich die Freiheit gefährdet sehe.

STANDARD: Woran machen Sie das fest?

Heller: In den letzten eineinhalb Jahren hat in Ungarn eine Art von Bonapartismus Einzug gehalten, eine autoritäre Regierungsform, die eine Zentralisierung und Konzentration der Macht in einer einzigen Hand vorsieht. Wenn ich von Bonapartismus spreche, dann meine ich Napoleon III., der auch mit zwei Dritteln der Stimmen in Frankreich gewählt wurde, ehe er das Parlament auflöste. In Ungarn braucht man das Parlament nicht aufzulösen, denn es gibt nur eine ganz kleine Opposition im Parlament. Das heißt, es gibt überhaupt keine Gegenkräfte, und die Regierenden machen, was sie wollen, weil sie glauben, so mächtig zu sein.

STANDARD: Sie selbst waren Verfolgungen durch das kommunistische Regime ausgesetzt. Wie sieht das jetzt aus?

Heller: Man hat mir und Kollegen im Jänner vorgeworfen, dass wir Gelder der Akademie der Wissenschaften für unnötige Dinge verschwendet hätten. Zudem deutete man an, dass wir das Geld gestohlen hätten. Bei der Untersuchung kam nun allerdings heraus, dass ich als Projektleiterin natürlich keinen einzigen Cent bekommen habe - insofern kann ich auch nichts gestohlen haben.

STANDARD: Warum sind es vergleichsweise wenige Leute, die sich gegen die Regierung wehren?

Heller: Die meisten gehen deshalb nicht an die Öffentlichkeit, weil sie Angst um ihre Stelle haben - und diese Angst ist nur berechtigt, wenn man sich ansieht, was in den ungarischen Medien geschehen ist, wo hunderte Leute entlassen wurden.

STANDARD: Sie haben kürzlich in einem Interview gemeint, die Ungarn wüssten den Wert der Freiheit nicht zu schätzen. Ist das mit Blick auf 1848 und 1956 nicht sehr unfair?

Heller: Gegenüber den Beteiligten von 1956 ist es unfair. Doch 1989 wiederum ist eine ganz andere Geschichte. In allen anderen osteuropäischen Ländern haben die Bürger dazu beigetragen, dass es zu einer Systemwende kam, und sich aktiv für die Freiheit eingesetzt. In Ungarn war das anders: Da saßen die alte kommunistische Regierung und die junge Opposition an einem runden Tisch und haben über die Zukunft des Landes beratschlagt. Die Bevölkerung war daran so gut wie gar nicht beteiligt. Dieser allzu friedliche Übergang, auf den viele Intellektuelle stolz waren, stellt sich jetzt als gefährlich heraus.

STANDARD: Inwiefern?

Heller: Die Bürger erkennen nicht, dass sie mit der gewonnenen Freiheit etwas zu tun hatten und haben, sondern sehen sie als ein Geschenk, das ihnen in den Schoß fiel. Doch jetzt werden sie lernen, dass auch die Freiheit einen hohen Preis hat.

STANDARD: Sie bezeichnen Viktor Orbán als modernen Bonaparte, sagen aber auch, dass er kein Rassist und auch kein Antisemit sei. Nun wurde mit István Csurka ein Rechtsradikaler und Antisemit zum Intendanten des renommierten "Neuen Theaters" in Budapest bestellt. Soll damit diese Wählerklientel angesprochen werden?

Heller: Ich denke nach wie vor, dass Viktor Orbáns Fidesz keine antisemitische und rassistische Partei ist. Die rechtsextreme Jobbik-Partei hingegen ist beides. Das Problem ist, dass es in den letzten Monaten zu einem Wettbewerb dieser beiden Parteien um Wählerstimmen kam. Fidesz scheint Stimmen an Jobbik zu verlieren, eben weil diese Partei rassistische Losungen hat. Aber das will Fidesz nicht so einfach hinnehmen und macht den Faschisten Konzessionen - siehe Csurka.

STANDARD: Könnte das bei einer Verschlechterung der Wirtschaftslage zu einer auch gewaltsamen Entwicklung führen, die Orbán selbst nicht mehr steuern kann?

Heller: Gewalt ist möglich in Ungarn - nicht nur durch die extreme Rechte, sondern, durch sie provoziert, auch auf der anderen Seite. Ich hoffe aber, dass sich eine andere Form von Opposition in Ungarn entwickelt und dass diese Opposition stark genug sein wird, solchen Entwicklungen vorzubeugen.

STANDARD: Halten Sie es für möglich, dass es in Europa angesichts der EU-Krise zu einer Renaissance autoritärer, womöglich faschistischer Systeme wie in der Zwischenkriegszeit kommt?

Hellen: Ich sprach im Zusammenhang mit Orbán nie von Faschismus. Aber Bonapartismus ist zweifellos eine europäische Tradition, genauso wie der Republikanismus. Wir dürfen nicht vergessen, dass in vielen Teilen Europas die Tradition der liberalen Demokratie nur sehr kurz ist. In Westeuropa begann der Lernprozess schon nach 1945, in Spanien, Portugal und Griechenland hingegen gab es bis in die 1970er-Jahre faschistische Regierungen oder solche des Militärs. Zuletzt kamen die Länder Osteuropas, die noch nicht dieselben Erfahrungen mit liberalen Demokratien machen konnten. Für ihre Bewohner ist das noch nicht so selbstverständlich. Insofern ist ein Rückfall in bonapartistische oder faschistische Regierungsformen zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich. Zumal nicht in Westeuropa, wo es immer wieder zu Erneuerungen der Demokratien kam - zum Beispiel durch die 1968er-Bewegung. Im Osten hingegen fehlt so etwas seit 1989, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass 60 Prozent der Leute heute politisch apathisch sind. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2011)