Ein Protest, der sogar bei jenen auf Verständnis stößt, gegen die er sich richtet, muss entkräften. Dieser Umstand lässt sich gerade an der aus Amerika nach Europa importierten Occupy-Bewegung beobachten. Während die Gruppe mit ihrem Kampf um den New Yorker Zuccotti Park in den USA nach wie vor für Diskussionen sorgt, ist es rund um die europäischen Occupy-Ableger still geworden. Zu Massenprotesten kommt es kaum noch, die Camps in Frankfurt und London leeren sich. Der Export der Bewegung nach Europa ist vorerst gescheitert.

Das ist nicht die Schuld der Demonstranten, sondern ihrer Gegner. Paradoxerweise ist "Occupy Europe" daran gescheitert, dass sie den Nerv der Zeit zu gut getroffen hat.

Dabei schien das Terrain auf dem Kontinent perfekt für die Protestbewegung geeignet zu sein. Wir fordern mehr politische Mitsprache, mehr Kontrolle über die Finanzmärkte: Nirgends erscheinen diese Rufe aus der Occupy-Szene angebrachter als in Europa, das gerade droht an einer beispiellosen Schuldenkrise unterzugehen.

Doch da lag schon das Problem. Die Basis der Bewegung war so breit aufgestellt, dass ihren Parolen niemand widersprechen wollte - oder konnte. Selbst das verbliebene Prozent nicht. Von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel abwärts waren europäische Spitzenpolitiker, ja selbst Banker, voller Lob für die Bewegung. Der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, ließ gleich ausrichten, die Menschen "hätten ein Recht, empört zu sein."

Eine Bewegung, die keinen Reibebaum findet, erschlafft früher oder später. Da liegt der Unterschied zwischen Europa und den USA: Mit der erzkonservativen Tea Party hat Occupy Wall Street einen ideologischen Gegner, an dem sie sich abarbeitet kann, der sie quasi konstruiert.

In Europa dagegen sind die wichtigsten Verlangen der Bewegung, wie eine Finanztransaktionsteuer, längst Teil des Forderungskataloges der bürgerlichen Mitte geworden. Selbst Ideen wie eine Reichensteuer sind inzwischen in konservativen Milieus salonfähig.

Vielleicht sollten sich die europäischen Demonstranten auf die Suche nach extravaganten Inhalten und Formen machen. Denn gerade in der Krise braucht es eine kritische Öffentlichkeit, die an Tabus rüttelt. Einst galt der gesellschaftliche Tabubruch als revolutionär. Derzeit muss man den Hut vor jenen ziehen, die noch eines entdecken, das nicht schon Teil der Regierungsrhetorik geworden ist. (DER STANDARD; Print-Ausgabe, 19./20.11.2011)