Connie Willis: "Die Jahre des Schwarzen Todes"
Broschiert, 784 Seiten, € 10,30, Heyne 2011
Was soll ich sagen? Ich musste am nächsten Tag arbeiten gehen und hab trotzdem bis halb fünf in der Früh durchgelesen, um mir die letzten paar hundert Seiten in einem Rutsch reinzuziehen. Connie Willis ist einfach eine mitreißende Erzählerin, und hier beweist sie es mit einer Geschichte, die einen durch das ganze Gefühlsspektrum jagt: Auf Humor, der in dem Ausmaß nicht zu erwarten war, folgt Hochspannung, und die geht schließlich ins sehr, sehr Tragische über. "Die Jahre des Schwarzen Todes" ist 1992 als "Doomsday Book" im Original und 1993 zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Die Wiederveröffentlichung nach so langer Zeit kommt perfekt getimt in einem Jahr, in dem die US-amerikanische Autorin mit ihrem Doppelroman "Blackout/All Clear" den Hugo und den Nebula abgeräumt hat. Ein Déjà-vu: Dieser Doppelschlag glückte ihr nämlich schon damals mit dem "Doomsday Book", das überdies vor demselben Handlungshintergrund angesiedelt ist wie ihr jüngstes Werk.
In den 50ern des 21. Jahrhunderts zehrt die universitäre Geschichtswissenschaft von einer zu diesem Zeitpunkt bereits wohletablierten Forschungsmethode: Zeitreisen. So auch in Oxford, wo Willis mehrere inhaltlich verbundene, aber in sich abgeschlossene Erzählungen angesiedelt hat. In "Die Jahre des Schwarzen Todes" startet die Studentin Kivrin Engles ins Jahr 1320: Eine Premiere, und eine unter zwiespältigem Vorzeichen noch dazu. Denn bislang galt das Mittelalter als zu gefährliches Reiseziel, doch nutzt der Leiter des Fachbereichs Mediävistik den Umstand, dass er kurzfristig das Sagen hat, weil der Dekan der Uni in die Weihnachtsferien abgedampft ist. Eine Terminplanung übrigens, die noch für so manche Misslichkeit verantwortlich sein wird. So wird die Reise ohne die üblichen Vorab-Tests vom Zaun gebrochen, und prompt geht jede Menge schief. Es folgt ein Spoiler, wenn auch nicht meiner: Denn niemand, der das Buch in die Hand nimmt, kommt vor dem Lesen um die Info in Umschlag- und Klappentext herum, dass Kivrin versehentlich im Jahr 1348 landet, also mitten in der verheerenden Pest-Epidemie, die England damals heimsuchte. Ob das so weise ist, derart mit der Tür ins Haus zu fallen? Im Roman selbst vergehen über 500 Seiten, ehe dieses Geheimnis offiziell gelüftet wird - mag auch Kivrins Mentor Mr. Dunworthy (eine der Figuren, die Willis später für "Blackout/All Clear" übernehmen sollte) schon lange vorher Übles geschwant haben. Sei's drum. Diese Pestratte ist unwiederbringlich aus dem Sack, zum Glück ist das aber gar nicht mal der zentrale Aufhänger der Geschichte.
Ab Kivrins Ankunft im 14. Jahrhundert spaltet sich die Handlung gemäß den beiden Zeitebenen in zwei parallele Stränge. Kivrin kommt bei einer Landadelsfamilie unter und muss unter anderem feststellen, dass ihre peniblen Vorbereitungen auf den Trip großteils für die Katz sind, sobald das historische "Wissen" mit dem tatsächlichen Mittelalter konfrontiert wird. Willis baut hier einige nette satirische Spitzen auf den Gelehrtenbetrieb ein: So wurden Kivrin von einem Professor sämtliche Deklinationen des Mittelenglischen eingebläut und trotzdem versteht sie vor Ort zunächst einmal nur Bahnhof. Viel schlimmer wiegt jedoch der Umstand, dass Kivrin trotz aller Schutzimpfungen bei ihrer Ankunft erkrankt war und in bewusstlosem Zustand auf den Landsitz ihrer Gastfamilie transportiert wurde. Mit zunehmender Verzweiflung versucht sie in der Folge den eigentlichen Ort ihrer Ankunft - irgendwo mitten im Wald - zu eruieren, denn nur von dort kann sie wieder zurückkehren. Währenddessen mehren sich die Anzeichen, dass sich rings um sie und ihre Gastfamilie ein Verhängnis zusammenbraut. Aber auch im 700 Jahre entfernten Oxford kommt es zu unerwarteten und gravierenden Problemen: Eine Viruserkrankung (also nicht die Pest) breitet sich aus, Oxford wird unter Quarantäne gestellt und der ohnehin von der Weihnachtslähmung befallene Uni-Betrieb kommt endgültig zum Erliegen. Und mit ihm leider auch alle Hoffnungen Dunworthys, Kivrin schnell in die Gegenwart zurückzuholen. In der Folge wird es nicht nur darum gehen, wie sich eine Epidemie bei unterschiedlichem medizintechnischen Entwicklungsstand auswirkt, sondern auch darum, wie die beiden Krankheitswellen zusammenhängen könnten.
Bevor's an die verdiente Lobhudelei geht, noch eine kurze Anmerkung: Technische Aspekte interessieren Willis wenig bis gar nicht. Gerade einmal zwei Elemente einer Zukunftstechnologie kommen vor, und beide bleiben eher schwammig beschrieben: Zum einen das Netz, mit dem man durch die Zeit geschickt wird, und das auf irgendeine nicht näher genannte Weise selbsttätig dafür sorgt, dass man nirgendwo landen kann, wo man ein Zeitparadoxon auslösen könnte - wie in vielen anderen SF-Erzählungen gilt also auch hier das Selbstkonsistenzprinzip. Zum anderen der Übersetzer, der Kivrin implantiert oder injiziert wurde und sie bei der Verständigung mit den Einheimischen unterstützen soll. Meistens scheint Kivrin seine Übersetzungsvorschläge wie eine innere Stimme zu hören, was auf ein künstlich erzeugtes Subprogramm ihres Bewusstseins hindeutet. Mal scheint der Übersetzer aber auch ohne ihr Zutun anderen Menschen zu antworten - wurde ihr auch ein Lautsprecher eingebaut? Egal, ein Hard-SF-Autor hätte dies sicher schlüssiger beschrieben, aber Willis konzentriert sich eben lieber aufs Menschliche. Und es passt auch irgendwie zur sympathisch unvisionären Schilderung einer Zukunft, die in keinster Weise mit Gadgets klotzt. Ganz wie heute auch fährt man hier Fahrrad und ärgert sich über Regenschirme, die sich nicht zusammenklappen lassen. Detail am Rande: Im Jahr 2054 sind die ProtagonistInnen ständig auf der Suche nach einem Festnetzanschluss - das Buch wurde eben kurz vor der Handy-Revolution geschrieben.
Was "Die Jahre des Schwarzen Todes" von Anfang an auszeichnet und trotz beträchtlicher Romanlänge niemals Langeweile aufkommen lässt, ist der Humor. Eine Landstraße, hatte es geheißen, aber so sah sie nicht aus. Was vor ihr lag, war noch nicht einmal eine Straße. Eher ein Fußweg. Oder ein Weideweg für Rinder. Dies also waren die Fernstraßen im England des 14. Jahrhunderts, die den Handel förderten und Horizonte erweiterten, konstatiert Kivrin bei einer der zahlreichen Kollisionen von Schulbuch-Phrasen mit der Wirklichkeit. Leise und trocken ist der Humor aber nicht immer, im Gegenteil: In der Quarantänezone Oxford geht es geradezu turbulent zu, und wie so oft setzt Willis hier vor allem auf egozentrische Verhaltensweisen, um Situationskomik zu erzeugen. Für Running Gags sorgen unter anderem Dunworthys Assistent, der einen Warenengpass nach dem anderen bejammert, oder die überfürsorgliche Mutter eines Studenten, wenn sie wie eine Harpyie über arme Epidemie-Opfer herfällt und sie mit aufbauenden Bibelstellen über Tod und Pestilenz malträtiert. Angereichert wird das burleske Gewimmel zudem um Uni-Gelehrte, die derart auf ihre Fachinteressen fixiert sind, als wären sie direkt aus Jonathan Swifts Laputa zur Erde gestürzt, und die Krone setzt ihm ein in Oxford gestrandetes Ensemble von Handglockenspielerinnen aus den USA auf. Armer Dunworthy, und er muss versuchen, da irgendwie Struktur reinzukriegen!
Das ist ausgesprochen vergnüglich zu lesen, und umso schwerer fällt der Schlag in den Magen aus, wenn die Ereignisse auf beiden Zeitebenen einen dramatischen und auf einer davon sogar einen erschütternden Verlauf nehmen. Im Bild einer Kuh, die verzweifelt nach jemandem sucht, der sie melkt, führt Connie Willis schließlich das absurd-komische und das todtraurige Element ihrer Erzählung in grandioser Weise zusammen - eine der vielen vermeintlichen Nebensächlichkeiten, vor denen der Roman geradezu überquillt und die ihn so überaus lebendig machen. Willis balanciert geschickt Details, deren Bedeutung erst später erkennbar wird, mit solchen aus, die einfach nur die Zufälligkeiten des Lebens widerspiegeln. (Ein Gegenbeispiel wären die platten Erzählstrukturen von Soaps, wo wirklich nichts ohne Ausrichtung auf einen künftigen Handlungsstrang passiert. Wenn da mal einer scheinbar zufällig stolpert, kann man gleich Wetten darauf abschließen, wieviele Folgen später ein Gehirntumor diagnostiziert wird, der Gleichgewichtsstörungen auslöst ...) Das gibt in Summe Science Fiction ohne allzuviel Science, aber dafür mit umso mehr Erzählkunst. Wer "Die Jahre des Schwarzen Todes" also bislang noch nicht gelesen hat: Es lohnt sich!