Kairo/Genf/Jerusalem - Fünf Tage vor dem Beginn der Parlamentswahl herrscht in Ägypten Chaos. Ungeachtet politischer Teilzugeständnisse des regierenden Militärrates unter Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi gingen die blutigen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in Kairo und anderen Städten am Mittwoch weiter.
Demonstranten harren aus
"Hau ab, hau ab. Das Volk will den Marschalls stürzen", skandierten denn auch Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, die dort einmal mehr zum Teil die ganze Nacht ausgeharrt hatten. Andere hängten eine Puppe auf, die Tantawi darstellen sollte. Viele trugen Atemschutzmasken, um sich vor den Tränengasschwaden zu schützen. Rettungswagen fuhren die Verletzten davon. "Mit Tagesanbruch haben sie angefangen, uns zu beschießen, weil sie uns dann sehen konnten", sagte ein 32 Jahre alter Möbeltischler.
Die Polizei hat erklärt, sie habe keine scharfe Munition eingesetzt. Doch Ärzten zufolge wiesen viele der Menschen, die in den vergangenen fünf Tagen getötet wurden, Schusswunden auf. Am Nachmittag schien sich die Lage etwas zu entspannen, als sich die Polizei aus der Mohamed Mahmoud Straße zurückzog und einem Waffenstillstand zustimmte.
Der Militärrat, der im Februar die Macht von dem nach Massenprotesten zum Rücktritt gezwungenen Präsidenten Hosni Mubarak übernommen hatte, kündigte am Dienstag eine Präsidentenwahl für Juni 2012 an. Bisher war von Ende 2012 oder Anfang 2013 die Rede gewesen. Das Rücktrittsgesuch der Übergangsregierung unter Ministerpräsident Essam Sharaf wurde vom Militärrat angenommen.
USA rufen zur Zurückhaltung auf
Den Demonstranten geht die Zusage nicht weit genug. Sie fordern den Rücktritt Tantawis, der unter dem früheren autoritären Regime zwanzig Jahre lang Verteidigungsminister gewesen war. Die USA, die Ägypten jährlich Militärhilfen in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar zahlen, riefen erneut "alle Seiten" zur Zurückhaltung auf. UNO-Menschenrechtskommissarin Navanethem (Navi) Pillay hat die ägyptischen Behörden aufgefordert, den "eindeutig unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt" gegen die Protestierenden auf dem Kairoer Tahrir-Platz zu beenden. Es müsse eine "rasche, unparteiische und unabhängige Untersuchung" zu dem Vorgehen der Sicherheitskräfte geben, erklärte die Südafrikanerin in Genf. Pillay kritisierte willkürliche Festnahmen und nannte die Bilder vom Tahrir-Platz "zutiefst schockierend".
Amnesty: Unterdrückung und Folter haben zugenommen
Die Menschenrechts- und Gefangenenhilfe-Organisation Amnesty International hat die Militärmachthaber in einem 62-Seiten-Bericht beschuldigt, Unterdrückung und Folter verglichen mit dem früheren Regime noch verschärft zu haben. Nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen sind bei den jüngsten Unruhen in Ägypten etwa 30 Menschen ums Leben gekommen. Pillay sprach von "der berichteten Tötung von etwa 30 Demonstranten" sowie von vielen hundert Verletzten.
Israel setzt nach den Worten von Heimatschutzminister Matan Vilnai auf Tantawi, um die chaotischen Zustände in dem Nachbarland abzuwenden und den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag auch nach einem zu erwartenden Wahlsieg der Muslimbrüder zu bewahren. "Wir hoffen, dass er (Tantawi) Erfolg haben wird. Das sollten auch die Ägypter hoffen", meinte Vilnai im israelischen Armeerundfunk. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sei in ständigem Kontakt mit dem obersten Militärrat Ägyptens, sagte der Minister.
Israel fürchtet Wahlsieg der Muslimbruderschaft
Israels größte Sorge sei der erwartete Wahlsieg der Muslimbruderschaft, deren palästinensischer Ableger die im Gazastreifen herrschende Hamas ist, sagte Vilnai. Nach Informationen der Zeitung "Maariv" soll Generalstabschef Benny Gantz dem israelischen Sicherheitskabinett bereits einen Plan für den Fall vorgelegt haben, dass Ägypten den Separatfrieden von Camp David - wie von den Muslimbrüdern gefordert - annulliert. Vilnai sagte dazu, dies sei "derzeit nicht aktuell". Er fügte hinzu: "Ich sage: derzeit".
Netanyahu hatte nach Beginn des Volksaufstands in Ägypten zu Jahresbeginn die US-Regierung vergeblich bis zum letzten Moment gedrängt, Mubarak zu unterstützen. Nach dem Machtwechsel in Kairo warf Netanyahu dem Militärrat vor, nicht entschieden genug gegen den Terrorismus vorzugehen. Inzwischen wird auch spekuliert, dass ein Bündnis mit den wahrscheinlichen islamistischen Wahlsiegern den Militärs ihre umfangreichen Privilegien sichern könnte. (APA/Reuters/red)