Für Pierre Rosanvallon wäre es angesichts der Krise des Wohlfahrtsstaats wichtiger, "die sozialen Bande wieder zu stärken, als etwa eine neue Umverteilung anzustreben".

Foto: Collège de France

Standard: Die EU steckt in einer tiefen Krise. Was passiert mit dem Sozialstaat, der als eine der großen Errungenschaften Europas gilt?

Rosanvallon: Bis zum Fall der Berliner Mauer wuchsen die Wohlfahrtsstaaten mit Sozialversicherung, Steuerprogression und Mindestlöhnen. Die Ungleichheiten nahmen beträchtlich ab. Dann endete diese Bewegung aber abrupt, um sich sogar umzukehren. In den meisten Ländern etwa ist der Spitzensteuersatz stark zurückgegangen. Die Umverteilung durch Steuern sinkt also. Schlimmer noch: Der Wohlfahrtsstaat hat seine Legitimation generell verloren.

Standard: Die Leute empören sich aber höchstens über Trader-Boni und Superlöhne von Konzernchefs.

Rosanvallon: Gleichzeitig tolerieren sie die Supergehälter im Showbusiness oder von Fußballspielern, die teilweise doppelt so viel verdienen wie Bernard Arnault, Chef des weltgrößten Luxuskonzerns LVMH. Darin liegt der große Widerspruch der heutigen Zeit: Man protestiert gegen bestimmte Exzesse, akzeptiert aber Mechanismen, die Ungleichheiten produzieren, nämlich die "Meritokratie", die Idee des "Verdienens". Damit verliert die Solidarität ihren Sinn, und das Gemeinschaftsgefühl geht verloren.

Standard: Was tun?

Rosanvallon: Man muss sich auf das Prinzip der Gegenseitigkeit besinnen. Viele Bürger wären bereit, sich für die Gesellschaft zu engagieren - aber nur, wenn das auch die anderen tun. Das setzt Vertrauen voraus, das Gefühl, am gleichen Strick zu ziehen.

Standard: Und wie lässt sich dieses Prinzip umsetzen?

Rosanvallon: Die Wechselseitigkeit - oder deren Fehlen - muss transparent gemacht werden. Man sollte Beobachtungsstellen einrichten, die aufzeigen, wie alle Leute von Sozialleistungen profitieren. So würde publik, dass in Frankreich Großunternehmen nur halb so hoch besteuert werden wie Klein- und Mittelbetriebe. Das würde aber auch offenbaren, wie verbreitet Sozialbetrug ist.

Standard: Heute reiten Populisten auf solchen Themen herum.

Rosanvallon: Genau, denn in einer Gesellschaft der Gegenseitigkeit finden sie kein Echo. Der Populismus ist nämlich nichts anderes als die Revolte derjenigen, die sich als die Verlierer der Gegenseitigkeit sehen. Sie wenden sich gegen die vermeintlichen Profiteure oben in den Eliten und unten in der Einwanderung.

Standard: Wie könnte man sonst noch dagegen vorgehen?

Rosanvallon: Man müsste dafür sorgen, dass die Bürger wieder das Gefühl erhalten, dass sie einander ähnlich sind - in ihrem Anspruch auf Respekt, Würde und Bildung. Zudem gehört der Raum des öffentlichen Lebens erweitert. Bereits der französische Revolutionär Emmanuel-Joseph Sieyès sagte, dass man die Trottoirs verbreitern müsse, wenn man eine Demokratie schaffen wollte. Je weniger öffentlichen Raum es gibt, desto mehr Misstrauen gibt es.

Standard: Das Vertrauen als erste gesellschaftliche Basis?

Rosanvallon: Ja, es ist wichtiger, die sozialen Bande wieder zu stärken, als etwa eine neue Umverteilung anzustreben. Das war auch das Ziel der "Égalité" in den Revolutionen Frankreichs und der USA.

Standard: Lässt sich das auch auf die EU-Debatte übertragen?

Rosanvallon: Ja. Solidarisch sein heißt, die Last und die Verantwortung gemeinsam zu tragen, im Notfall auch für die Schulden der anderen einzustehen. Nur so baut man europaweit eine Gesellschaft des Vertrauens. Der EU mangelt es weniger am politischen Willen als an gegenseitigem Vertrauen. Noch sind die Europäer nicht bereit, für die Fehler der anderen zu zahlen.

Standard: Wie könnte sich das ändern?

Rosanvallon: Eine Entwicklung, die im 19. und 20. Jahrhundert viele europäische Länder erlebten - Reformen durch Angst. Bismarck zog in Deutschland Reformen durch, um eine Revolution zu verhindern; später tat dies der Westen aus Angst vor dem Kommunismus.

Standard: Und heute - die Angst vor den Finanzmärkten?

Rosanvallon: Es ist nicht immer so, dass die Angst vor der Krise etwas Positives bewirken kann. Doch für eine definitive Antwort ist es zu früh. Wir kennen den Preis der Angst gar nicht. Ende des 19. Jahrhunderts reagierten die Leute auf die erste Globalisierung mit Protektionismus, Fremdenhass, Nationalismus. Danach setzten sich die sozialrepublikanischen Kräfte und aufgeklärten Konservativen durch und verhalfen den Sozialrechten zum Durchbruch. Heute, während der zweiten Globalisierung, kommen die gleichen Ängste wieder auf. Die Antwort darauf ist aber noch unklar.

Standard: Die Rechte scheint bereits eine zu haben.

Rosanvallon: Die Rechte präsentiert sich als wirksame Verwalterin dieser Probleme, während die Linke weiß, dass sie nicht mehr nur dem Wohlfahrtsstaat mit ständig steigenden Staatsausgaben nachleben kann. Deshalb ist die Linke stumm. Sie hat die Sprache der Neugründung noch nicht gefunden. Mein Ziel ist es gerade, ihr neue Wege aufzuzeigen, die nicht mehr einfach über die Umverteilung führen. (Stefan Brändle/DER STANDARD, Printausgabe, 24. 11. 2011)