Schafe, die wie weiche Wollknäuel im Gegenlicht schweben und während der sengenden Hitze im Schatten der mächtigen Eukalyptusbäume grasen. Hie und da stechen Haufen aufgetürmter, knorriger Äste aus dem Grasteppich, die irgendwann im Laufe des Winters ein Bauer auf seinen zerbeulten Pick-up werfen wird. Wie ein verwunschener englischer Park sehen die ältesten Schaffarmen Victorias aus, die rund um das Kaff Coleraine auf ein landschaftliches Highlight der vielfältigen australischen Provinz einstimmen: die westlich von Melbourne gelegenen Grampians.
Dicht bewaldete Gebirge mit markant erodierten Sandsteinformationen finden sich hier, Höhlen und abrupte Steilabbrüchen, die sich zu einem der vielfältigsten Nationalparks Australiens summieren. Freeclimber kommen hier auf ihre Kosten. Sandsteinsäulen und spektakuläre Aussichtsplätze wie der Reed Lookout oder The Balconies zählen zu den Coverstars einschlägiger Klettermagazine, während Wildblüten das stille Wartook Valley in einen bunten Teppich Richtung australischer Urnatur verzaubern. Aber auch der kurze Spaziergang zu den MacKenzie Falls lohnt die Mühe: breite Kaskaden auf glänzenden Steintreppen, die man fast berühren kann.
Es sind Bilder, die auch heute zum einstigen Pionierland passen, das man hier betritt. Die Nähe zu Melbourne, der "alten Tante" Australiens, hatte hier früh zu historischen Anekdoten inspiriert. Tarrington, das bis zum Zweiten Weltkrieg noch Hochkirch hieß und 1853 von Sachsen gegründet worden war. Coleraine, das Dorf der Iren, mit seinen 12.000 Eukalyptusbäumen, die das Peter Francis Points Arboretum nun zum größten Eukalyptuspark der südlichen Hemisphäre machen - während einige Schritte weiter, in der Glenelg-Konfektfabrik, berühmte Schokotrüffel entstehen. Im Kaff Moyston einigte man sich 1858 erstmals auf all-australische Rugby-Regeln, in Aspley liegt Victorias älteste Pferderennbahn. Und rund um Ballarat begann die Erfolgsgeschichte des bekanntesten australischen Rotweins. Seit 1863 wird hier der Shiraz angebaut - länger als an den meisten anderen Flecken der Welt.
Nicht dass Weinfreunde in der südöstlichen australischen Provinz Victoria nicht auch an anderer Stelle fündig werden würden. 1838 ging es los, nördlich von Melbourne. Doch schon dreißig Jahre später schlug auch hier die Reblaus zu, ein Schock, von dem sich die noch junge Weinindustrie erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts erholen sollte. Dass das gelungen ist, verrät bereits die Degustation der Statistik: Mehr als 3000 Weingüter und 650 Kellereien verteilen sich nun über einundzwanzig Weingebiete, auf deren Böden hervorragende Tropfen reifen, so unterschiedlich wie die Provinz selbst. Sauvignon blanc im sonnengebackenen Nordwesten, pfeffriger Shiraz in den Grampians, fruchtige Tokaier und Muskats in der Region um Rutherglen, Pinot noir gleich neben den Stränden der südöstlich von Melbourne gelegenen Mornington Peninsula - so sieht ein Blick auf Victorias Weinlandkarte aus.
Gelbgrünes Leuchten, das sich im Laufe des Sommers in eine goldene Hülle verwandeln wird - damit begrüßt die Gegend des berühmtesten Weinbaugebietes, des eine knappe Stunde vor Melbourne gelegenen Yarra Valleys, die Besucher.
Und außerdem mit Schaumwein, den der Herr von der Domaine Chandon soeben liebevoll in Gläser gießt. Denn jetzt, nach Kellertour und Blick auf diverse Finessen der "methode traditionelle", nach der hier eben auch Chandon-Champagner hergestellt wird, ist Verkostung angesagt. In allen Farbnuancen perlt dazu der Schaumwein in die Gläser-Parade des Green Room, hinter raumhohen Glaswänden wölbt sich ein weich onduliertes Land bis zum Horizont. Es könnte die Gegend hinter Bordeaux sein, auch wenn das Klima ein wenig kühler ist als an der französischen Atlantikprovinz und zugleich etwas wärmer als im Burgund - ideal für Chardonnay und Cabernet Sauvignon. Um einen prachtvollen Flecken Erde handelt es sich auf jeden Fall. Der Himmel: blassblau. Aber mit verquirlten Federwolken, wie bei Cézanne. Perfekt für die langen Sonntagnachmittage, die die Melbourner hier verbringen.
An der Yering Station, einem von insgesamt fünfundfünfzig Weingütern, die im kleinen Yarra Valley Spitzenqualität produzieren, spiegelt sich das umliegende Weinberg-Gewoge in den grünen Glasflächen moderner Architektur wider, und schon gar die vom National Trust als Kulturerbe klassifizierte Ulmen-Allee - wispernde Zeugen jener Ära, in der Yering 1838 als erstes Yarra-Weingut regionale Geschichte schrieb.
Ähnliches gilt auch für das nur wenige Autominuten entfernte TarraWarra Estate, wo die Betreiberfamilie Besen seit 1983 preisgekrönte Pinot noirs und Chardonnays produziert. Auch hier lautet die Devise: Yarra ist Cuvée plus Kunst. Schlanke Betonsäulen rahmen die grünen Wellen der Landschaft, setzen Reben und Architektur in Relation, machen auf die Exponate des darüberliegenden TarraWarra Museum of Modern Art neugierig - jüngste Erweiterung der künstlerischen Tradition des Yarra Valley. Im Falle der einstigen Künstlerkolonie Montsalvat war diese einst den Spuren der berühmten Heidelberger Schule der Landschaftsmalerei gefolgt.
Doch auch ohne Staffelei macht die Gegend was her - es reicht ein Blick durch den Rahmen des Wagenfensters. Ein sanft wogendes, je nach Jahreszeit grün leuchtendes, später vergoldetes Rebenmeer breitet sich dann aus - am schönsten vom überdimensionierten Picknickkorb jener Ballonfahrten aus gesehen, die dem Gourmet-Reiseziel besondere Höhepunkte verleihen.
Eukalyptus und Hollerbüsche segeln auf den sandigen Wellen. Zwischendurch blitzt der pinkfarbene Glamour der Pappelrosen herauf. Ein Nachbar leistet sich eine weitläufige Pferdefarm, auf den schmalen Feldwegen hoppeln Kängurus durchs blassblaue Morgenlicht. Nur von Outback keine Spur. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Rondo/25.11.2011)