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Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökçen posiert mit Bombe. Die Kampfpilotin flog beim Dersim-Massaker 1937/38 Einsätze.
Das Bekenntnis zum Republikgründer Kemal Atatürk, das türkische Grundschüler seit Jahrzehnten Tag für Tag im Chor aufsagen, klingt vielen Ohren nun hohler als je zuvor: "Ich bin Türke, ich stehe auf der richtigen Seite, ich liebe mein Land und meine Nation mehr als mich selbst." Der Damm, der die Atatürk-Kritiker zurückhielt, scheint gebrochen, seit Regierungschef Tayyip Erdogan diese Woche eines der dunklen Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte aufschlug und sich - wenn auch verklausuliert - für organisierte Massaker an kurdischen Aleviten in den Jahren 1937 und 1938 entschuldigte.
Ahmet Altan, Herausgeber der Tageszeitung Taraf und ein liberaler Wortführer im Land, lobte Erdogans "historische Entschuldigung" und verglich den Premier mit Willy Brandt, der 1970 in Warschau vor dem Denkmal für die Helden des Ghettos kniete. "Wir werden in der Lage sein, Atatürks wahre Persönlichkeit und das, was er als Diktator getan hat, zu beurteilen", schrieb Altan am Donnerstag in seiner Kolumne.
Atatürk einen Diktator zu nennen, dürfte dem Publizisten Altan ein Strafverfahren einbringen. Seit 60 Jahren verbietet ein Gesetz, das Andenken Kemal Atatürks zu verunglimpfen, und sieht bis zu fünf Jahre Haft vor. Doch dies kümmert Politiker und Intellektuelle nicht mehr. In schnellen Schritten bewegt sich die Türkei in diesen Wochen auf eine neue Republik zu. Nach der Teilentmachtung der Armee, so sagen politische Beobachter, nimmt sich Erdogans konservativ-muslimische AKP-Regierung den Republikgründer Atatürk selbst vor.
Gewaltsame Assimilierung
In Dersim, einer Stadt und Provinz in Ostanatolien, in der alevitische Kurden - eine doppelte Minderheit - leben, setzte der türkische Staat in den 1930er-Jahren mit Gewalt seine Assimilierungspolitik durch. Bis zu 70.000 Einwohner sollen Historikern zufolge von der Armee aus ihren Häusern getrieben und umgebracht worden sein, der überwiegende Teil erst, nachdem der Führer der Dersim-Kurden, der 75-jährige Seyid Riza, 1937 gehenkt worden war.
Die offizielle Geschichtsschreibung spricht von einem "Aufstand" der Kurden gegen die neue Zentralregierung. Atatürk, bereits gesundheitlich angeschlagen - er starb 1938 -, sei über das Vorgehen der Armee nicht unterrichtet gewesen, heißt es auch entschuldigend. Dersim wurde 1936 in das heutige Tunçeli unbenannt ("tunç" bedeutet "Bronze"), um die Behauptung zu stärken, das Gebiet sei schon seit der Bronzezeit von Turkstämmigen bewohnt.
Erdogan nannte in einer Rede vor Parteimitgliedern am Mittwoch die Zahl von 13.806 Toten. "Wenn es notwendig ist, dass der Staat sich entschuldigt, und wenn es eine solche Gelegenheit gibt, würde ich mich entschuldigen", sagte Erdogan und setzte nach: "Und ich entschuldige mich." Seine Rede hielt Erdogan hinter einem enormen Atatürk-Porträt. Den Republikgründer nannte er nicht. Dafür forderte er den Chef der früheren Staatspartei CHP auf, sich für das Massaker zu entschuldigen. Der ist in einer schwierigen Position: Kemal Kiliçdaroglu ist Alevit und stammt aus Tunçeli. (DER STANDARD Printausgabe, 25.11.2011)