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Die Anhänger der Muslimbrüderschaft strömten in den vergangenen Tagen in Massen auf den zentralen Kairoer Tahrir-Platz. Die Partei selbst hält sich zurück.

Foto:Khalil Hamra, File/AP/dapd

Nathan Brown: "Ägypten scheint in einer Warteschleife zu stecken."

Foto: Carnegie Endowment for International Peace

Inmitten der größten Unruhen seit dem Sturz von Langzeitstaatschef Hosni Mubarak im Frühjahr wählen die Ägypter ab Montag ein neues Parlament. Der regierende Militärrat hält das Land seit dem Ende der Ära Mubarak fest im Griff, nach der Wahl, so sagen viele Experten voraus, dürften die konservativ-islamischen Muslimbrüder zur dominierenden politischen Kraft in dem 80-Millionen-Einwohnerland werden. Der US-amerikanische Ägyptenexperte Nathan Brown erklärt im Gespräch mit derStandard.at, was die Lage in Ägypten so verfahren macht - und warum die Armee die Macht trotz des Urnengangs nicht so schnell aus der Hand geben dürfte.

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derStandard.at: Sind die Wahlen der erste Schritt zu einer repräsentativen Demokratie oder drohen sie angesichts der de facto-Kontrolle des Militärs zu Farce zu geraten?

Nathan Brown: Das Militär hat weiterhin die Kontrolle über das politische System, wobei nicht klar ist, wie weit die Politik die Kontrolle über das Land hat. Dieses Problem werden die Wahlen nicht lösen, trotzdem sind sie absolut notwendig für den weiteren Prozess.

derStandard.at: Die Militärs versuchen das Land unter ihrer Kontrolle zu behalten und gleichzeitig die Regeln für den Übergang zu definieren. Kann das funktionieren?

Brown: Sie selbst sehen sich in einer Art Schutzrolle. Sie wollen Stabilität - nach ihrer Definition - und einen Übergang auf politischer Ebene, ohne eine Aufsicht über das Militär und eine starke Rolle in Sicherheitsfragen. Die momentane Gewalt mag sie in den letzten beiden Punkten zu Zugeständnissen drängen, zumindest im Moment. Aber ich sehe keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ihre Übergangsrolle jetzt abgeben. Vorstellbar ist allerdings, dass noch mehr Druck dazu führen kann, dass sie den Zeitplan nach vorne verschieben. Gleichzeitig will die Armee nicht die Rolle der Verwaltungsbehörde einnehmen. Sie haben etwa absolut kein Interesse daran, das Gesundheitswesen zu managen, sich um das Bildungssystem oder die Lösung von kommunalen Problemen zu kümmern. Sie sehen sich offenbar als rechtskräftigen Garant für den ägyptischen Staat und dessen Gesellschaft. Ihnen schwebt wohl vor, zivile Politiker bei innerstaatlichen Fragen mitmischen zu lassen, während sie die überwachende Macht bleiben. Dass die Armee eine zivile Überwachung ihrer Angelegenheiten auf jeden Fall vermeiden will, scheint offensichtlich.

derStandard.at: Wieviel Macht kann eine neu gewählte Regierung dann überhaupt haben? 

Brown: Kurzfristig gesehen wird das Parlament nach der Wahl mehr Macht haben, es wird die legislative Kraft sein. Hinsichtlich der Exekutive wird es allerdings wenig Einfluss haben. Das heißt, man könnte nach der Wahl eine Regierung bekommen, die in etwa so aussieht wie die aktuelle. Also eine, die in erster Linie dem Militär untersteht. Es könnte weiterhin nicht klar sein, wer die Entscheidungen trifft. Diese derzeit nicht existente Transparenz könnte weiter bestehen.
Langfristig gesehen, also ab dem Zeitpunkt nach der Präsidentschaftswahl oder wenn es eine neue Verfassung gibt, wird es eine robustere und aktivere politische Handlungsvollmacht geben. Nicht, dass das gewählte Parlament bedeutungslos sein wird, es macht natürlich einen Unterschied, eine gewählte Regierung auf der politischen Bühne zu haben oder nicht, aber das Militär wird auch nach der Wahl die Kontrolle haben.

derStandard.at: Ändert die Entscheidung, dass alten Mitglieder der NDP (die vergangenen April aufgelöste Nationaldemokratische Partei Mubaraks, Anm.) nicht an der Wahl teilnehmen dürfen, etwas an der Besetzung der politischen Bühne?

Brown: Die meisten Abgeordneten werden über Parteilisten gewählt, die Einzelkandidaten stellen also die Minderheit. Das wirkliche Problem sehe ich nicht in der Kandidatur einzelner ehemaliger NDP-Mitglieder. Das wirkliche Problem ist das Beibehalten jener Sorte von Politik, die die NDP repräsentiert hat. Das Ausnützen von "Bossen" oder angesehenen Personen in bestimmten Vierteln, die ihr Prestige, Geld oder Gewalt dazu benützen, mehr Stimmen zu erhalten. 

derStandard.at: Warum wird von so sicher einem Sieg der Muslimbrüder ausgegangen? Liegt das daran, dass sie sich schon als lange als Partei organisiert haben, oder schlicht an ihrer Popularität?

Brown: Ich denke, sie streben selbst nicht die Mehrheit an. Ein Ergebnis wie in Tunesien wäre perfekt für sie, also ein Szenario, in dem sie zwar die wichtigste politische Kraft, aber nicht die alleinige Regierungsverantwortung übernehmen. Ich kann mir vorstellen, dass sie das auch erreichen könnten. Was die Organisation der anderen Parteien angeht, ist das keine Frage der Zeit, auch wenn sie das immer wieder betonen. Sie sind jetzt auch nicht besser in Form als vergangenen Februar. Die Muslimbrüder werden gut abschneiden, aber nicht weil sie mehr Zeit hatten, sondern weil sie über eine sehr disziplinierte Organisation verfügen, die stark verlinkt ist mit der Wählerschaft im Land. Die meisten anderen Parteien leben stark von ihren Anführern und weniger von ihrer Organisation. Sie haben die Verbindung zur Wählerschaft noch nicht geschafft, sei es zu Frauenorganisationen, zur Arbeiterschaft oder zu den Armen.

derStandard.at: Hängt die Verankerung der Muslimbrüder in der Gesellschaft nicht auch damit zusammen, dass sie bereits unter Mubarak im Parlament vertreten waren?

Brown: Ja, aber auch andere Parteien waren im Parlament vertreten, etwa linke Kräfte oder die Wafd-Partei (säkulare, nationalistische Bewegung, Anm.). Unter Mubarak war es möglich, Politik zu spielen, also politische Gruppen zu bilden, die auch zur Wahl antreten durften. Aber sobald sie versucht haben, aus der kleinen Partei eine soziale Bewegung zu machen, ging das Regime hart gegen sie vor. Deswegen wurden die Muslimbrüder auch mehr vom Regime verfolgt als andere. Jetzt, wo zumindest die Spitze des alten Regimes weg ist, stehen die Muslimbrüder gut da, weil sie die einzige Partei waren, die sich dafür eingesetzt hat, eine soziale Bewegung zu gründen. Anderen Parteien können vielleicht mit ein paar anführenden Intellektuellen oder Geschäftsmännern brillieren, verfügen aber über keine wirkliche nationale Präsenz.

derStandard.at: Wie schätzen Sie die Popularität der Muslimbrüder ein?

Brown: Sie sind beliebt, aber gleichzeitig fürchten sich viele vor ihnen. Sie haben eine derart große Gruppe von Mitgliedern hinter sich, die vermutlich die größte nichtstaatliche Gruppe darstellt, es sind Zehntausende, vielleicht Hunderttausende Mitglieder. In der breiten Gesellschaft hatten sie lange den Ruf, gütig, religiös, nicht selbstsüchtig zu sein, und die Gesellschaft verbessern zu wollen. Diesen Ruf genießen sie auch außerhalb ihrer Anhängerschaft. Christen, Liberale und Säkulare sehen sie natürlich skeptischer, sie haben also auch Gegner.

derStandard.at: Was sind die Gründe für die Vorbehalte gegenüber den Muslimbrüdern?

Brown: Grund zur Sorge gibt es dann, wenn die Muslimbrüder die Wahl haushoch gewinnen. Nicht unbedingt wegen der Inhalte, für die sie stehen, sondern weil es Ägypten jetzt nicht guttut, wenn es von einer einzigen Partei dominiert wird. Es geht letztendlich nicht um ihre Stärke, sondern um die Schwäche anderer Parteien.
Ich sehe zwei Probleme, sollten die Muslimbrüder gewinnen: Auf die Außenpolitik würden sie weniger Wert legen und versuchen, sich um den Posten des Außenministers zu drücken. Klar ist dann auch, dass sie die US-amerikanische Politik in der Region nicht mittragen werden. Aber auch hinsichtlich der Innenpolitik würden sie keinen Leitfaden für ihr Vorgehen haben, da sie nie in der Position waren, wo sie mehr tun mussten als reden. Auch in eigenen Reihen haben sie unterschiedliche Positionen. Sie wollen etwa eine Gesellschaft, die auf islamischer Basis beruht, aber was das in der Praxis heißt, haben sie noch nicht näher erklärt - sie mussten es bisher auch gar nicht.

derStandard.at: Welche Rolle spielt Religion bei der kommenden Wahl?

Brown: Eine riesige. Offiziell spielt sie keine, da religiöse Slogans verboten wurden. Aber die Gesellschaft an sich ist tief religiös und alle Politiker benützen letztendlich diese Karte, indirekt oder sonst wie. Für Christen könnte es sehr schwierig werden, weil Muslime sie kaum wählen werden. Gleichzeitig ist die Gesellschaft an sich sehr konservativ, jeder, der zu säkular oder westlich ist, könnte Probleme haben, außerhalb bestimmter Schichten in Kairo oder Alexandria gewählt zu werden.

derStandard.at: Abseits vom Militärrat: Was sind Hauptgründe für den Frust in der Bevölkerung, der sich seit dem Sturz Mubaraks angesammelt hat?

Brown: Die nicht gelösten wirtschaftlichen Probleme. Die Richtungslosigkeit, in der das Land noch immer steckt. Die Sicherheitssituation: Die Ägypter haben den Eindruck, dass jede Sicherheit auf den Straßen verschwunden ist. Das sind fundamentale Themen, bei denen sich noch immer nichts getan hat. Ägypten scheint in einer Warteschleife zu stecken. 

derStandard.at: Was war der größte Erfolg der Aufstände, abseits vom Sturz Mubaraks? Die Politisierung der Menschen?

Brown: Absolut. Ägypten ist jetzt ein anderes Land. Die Bevölkerung zeigt viel mehr politisches Engagement. Ihnen fehlen noch die Instrumente für eine etablierte Politik, aber ein immer größerer Teil engagiert sich jetzt erstmals.

derStandard.at: Wie hat sich die Situation der Kopten verändert? 

Brown: Ich bin mir nicht sicher, ob sich in der Realität viel geändert hat, aber in ihrer Wahrnehmung zumindest zwei Dinge: Das Unsicherheitsgefühl und die Angst um ihren Platz in der Gesellschaft durch die Allianzen islamischer Kräfte. Positiv ist, dass auch sie sich politisch engagiert haben. Zwar gibt es auch unter ihnen verschiedene Fraktionen, aber sie haben erheben jetzt ihre Stimme und sind eher dazu bereit, ihre Forderungen in der Öffentlichkeit zu präsentieren.

derStandard.at: War das brutale Vorgehen im Zuge der Demonstration von koptischen Christen in Kairo vergangenen Oktober ein Wendepunkt?

Brown: Schon, aber gleichzeitig ist nicht klar, in welche Richtung. Für Christen war es eine Art Weckruf, dass sie viel aktiver sein müssen, wenn sie bei einer friedlichen Demonstration brutal niedergeschlagen werden. Das war für sie die Botschaft. Gleichzeitig ist durch die Ausschreitungen bei dieser Demonstration das Gemeinschaftsgefühl, das während den Demonstrationen, die zum Sturz Mubaraks geführt haben, propagiert wurde, jetzt weg. 

derStandard.at: Im "Ägyptischen Block" sammeln sich viele säkulare Parteien, wovon die vom Multimilliardär und Geschäftsmann Naguib Sawiris angeführte "Freie Ägyptische Partei" eine der größten werden könnte. Spielt es eine Rolle, dass Sawiris koptischer Christ ist?

Brown: Er stand der Orascom Telecom Holding vor (erstee Mobilfunkbetreiber Ägypens, Anm.), stieg dann in den Fernseh- und Zeitungsmarkt ein. Er kann sich also großer Medienpräsenz sicher sein. Seine Partei besteht aus vielen Christen, ist aber trotzdem keine christliche Partei. Niemand will eine christliche Partei gründen, weil man damit automatisch die Minderheit ist. Einigen Ägyptern wird es egal sein, andere aber werden ein Problem damit haben, einen Christen zu wählen. Es ist an sich schon schwierig, die Muslimbrüder herauszufordern. Dass der Anführer noch dazu Christ ist, macht das Ganze ein bisschen schwieriger. (fin, derStandard.at, 24.11.2011)