Amerika, Land der unbegrenzten Möglichkeiten: ein junges Mädchen aus einem "Housing Project" in Tulsa, Oklahoma, in "American Passages".

Foto: Filmladen

Wien - Der amerikanische Traum ist nicht tot, sondern eher so etwas wie eine Baustelle für die Ewigkeit. Dies ist einer der Eindrücke, die sich beim Zuschauen von Ruth Beckermanns eindrucksvollem Dokumentarfilm American Passages einstellen. Träume entstehen schließlich im Kopf, und am Anfang des Films, als in New York die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten euphorisch gefeiert wird und Wahlhelfer Kondome verteilen - "election" reimt sich schließlich zu gut auf "erection" -, erhält man eine Vorstellung davon, wie sich diese Utopie gerade wieder erneuert.

Der französische Philosoph Jean Baudrillard nannte die USA sogar eine verwirklichte Utopie. Während man in Europa daran laboriert, historische Ideale nicht mehr verwirklichen zu können, geht es in Amerika um die Beständigkeit, eine Utopie verkörpern zu wollen. Dabei ist American Passages kein Film über Obama. Er unternimmt vielmehr den Versuch, ein Bild jenes Strebens nach Glück gerade an jenen Orten einzufangen, wo man es nicht unbedingt vermuten würde: im Alltag seiner Bewohner des "bible-belt" und Südwestens, bei Leuten aus der Mittelschicht und darunter.

Mit Einsatz und Eifer

Dabei ist Beckermanns Vermessung des Landes, die sich entfernt an die Ordnung des Roadmovies hält, vor allem deshalb so reichhaltig, weil sie keiner fixen Idee folgt, nichts überprüfen will, sondern von der Neugierde auf Begegnungen getragen ist: Christliche Studenten einer Universität, die sich streng an die Gebote der Bibel halten, eine afroamerikanische Glaubensgemeinschaft, die im Gospelgesang zueinanderfindet, oder ein homosexuelles Pärchen, das ein bürgerliches Familienmodell lebt - ihnen allen ist der Versuch gemeinsam, sich mit Einsatz und Eifer zu verwirklichen und diese Identität auch entsprechend nach außen zu tragen.

Der in gleitenden, assoziativen Montagen strukturierte Film entgeht dabei aber auch der Versuchung, diese Ideale auf ein paar wenige zu reduzieren, selbst wenn Religion und Patriotismus bestimmende Faktoren bleiben. Nicht erst die Wirtschaftskrise hat etliche der Protagonisten in prekäre Lebenssituationen gebracht. Doch selbst unterprivilegierte Frauen vor Sozialsiedlungen wie aus der TV-Serie The Wire oder Gefängnisinsassinnen, die bewegt Besserung geloben, legen in American Passages noch Zeugnis davon ab, dass kein Scheitern hier zum unumkehrbaren Ende wird.

Beckermann findet auch Momente, in denen der Pragmatismus im Umgang mit der Krise auf verblüffende Weise zum Vorschein kommt. Zum Beispiel in der Freude derjenigen, die den Zuschlag bei der Versteigerung des Inhalts von Lagerräumen bekommen, die sich irgendjemand nicht mehr leisten konnte. Ein anderer vertraut im Kasino nicht auf sein Glück, sondern auf die Nachlässigkeit derjenigen, die ihren Gewinn liegenlassen. Von da ist es nicht mehr allzu weit zur "Occupy"-Bewegung.

Amerika mag sich nicht auf einen Begriff bringen lassen, aber es gibt Bilder, in denen es sich besonders gut materialisiert. Las Vegas, das am Ende des Films steht, ist eines davon. Hier klingen noch einmal die Mythen des Kinos an, die verschwenderische Realisierung von Ideen. Beckermanns Blick darauf bleibt widersprüchlich (und damit europäisch): Er weiß eben um die Schönheit von Ambivalenzen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 26./27. November 2011)