"Maly Trostinec erinnern": Siebzig Jahre nach der ersten Deportation vom Aspangbahnhof findet in Wien am 28. und 29. November eine Gedenkkonferenz statt. Mehr Informationen unter www.im-mer.at.

Foto: Adelheid Wölfl

Edna Darom legt einen handgroßen Stein auf den Boden. Darauf steht: Feldschuh Julius (1889) & Regina (1895). Ermordet am 4. 9. 1942 in Maly Trostinec. Der Stein der Enkelin ist das Einzige, was hier an die Großeltern erinnert. Maly Trostinec ist die größte Massenvernichtungsstätte der österreichischen Juden neben Auschwitz. In dem Wald Blagowtschina bei Maly Trostinec wurden 40.000 bis 60.000 Juden und Jüdinnen ermordet, etwa 10.000 aus Österreich. Nur eine Schieferplatte mit kyrillischer Schrift, von der weißrussischen Opposition an die Straße gestellt, weist darauf hin.

Ednas Großvater Julius war das Jüngste der drei Kinder von Rosa Feldschuh. Er wurde in Galizien, in der heutigen Ukraine, geboren. Sein Vater starb bald an einer Lungenentzündung. Mutter Rosa suchte nach dem Tod des Mannes ihr Glück in Wien. Sie war tüchtig und hatte bald einen Delikatessenladen im zweiten Bezirk. Regina Spindel wurde ebenfalls in Galizien geboren. Als sie ihren Onkel in Wien besuchte, lernte sie Julius kennen. Regina und Julius heirateten 1917. Die Familie lebte in der Praterstraße 25. Erich wurde 1919 geboren, Emil 1922. Der Laden lief, die Kinder gingen zur Schule, das Leben war gut.

Die Feldschuhs waren eine von zahllosen Familien, die nach dem Zusammenbruch der Monarchie aus dem Osten gekommen waren, geflüchtet vor dem Antisemitismus in den neuen Nationalstaaten, Schutz suchend, aber mit viel Pioniergeist. 1938 wurde den Feldschuhs dann der Delikatessenladen weggenommen. Die Kinder durften nicht mehr zur Schule. Emil wurde nach Palästina geschickt, Erich nach Großbritannien. Die Eltern Feldschuh hatten bereits die Ausreisegenehmigungen für Amerika. Wegen seiner Mutter aber wollte Julius Wien nicht verlassen.

"Die Menschen wurden in Sammelwohnungen zusammengezogen, durften nur zu bestimmten Zeiten einkaufen, nicht mehr ins Kino oder Theater gehen. Sie wurden aus dem Bewusstsein der Nachbarn verdrängt", erzählt der Wiener Historiker Gerhard Ungar über diese Zeit. Im Osten wurden Juden in Ghettos zusammengepfercht. Jenes in Minsk wurde im Juli 1941, fünf Tage nach der Besetzung von Weißrussland errichtet, 40 Straßen wurden dafür einfach mit Stacheldraht umzäunt. 60.000 Menschen mussten auf zwei Quadratkilometer zusammenleben. Das erste große Pogrom fand am 7. November 1941 statt. Die Nazis wählten den Tag der Oktoberrevolution. 15.000 Menschen kamen ums Leben. Kurze Zeit später, am 11. November kam der erste Transport aus dem "Reich", aus Hamburg, nach Minsk.

Aus Wien verließ der erste Transport nach Minsk mit etwa tausend jüdischen Männern, Frauen und Kindern am 28. November 1941 den Aspangbahnhof. Am 11. Mai 1942, als der zweite Transport nach Minsk ging, waren in den Tagesrapporten der Gestapo keine genauen Zielangaben mehr angegeben. Auf dem Papier stand bloß: "Nach dem Osten". Das klang nach einer Reise ohne Wiederkehr. Es klang aber auch nach jenem diffusen Ort, aus dem viele Menschen zwanzig Jahre zuvor hergekommen waren. "Es hieß, sie sind zurückgegangen", beschreibt Ungar die Stimmung damals in Wien.

Der Leiter des Reichssicherheitshauptamts und "Organisator" des Holocausts, Reinhard Heydrich war persönlich im April 1942 nach Minsk gekommen und hatte angeordnet, dass nun auch deutsche und andere europäische Juden gleich nach ihrer Ankunft vernichtet werden sollten. Ab 1942 wurde die Ghettoisierung "ausgelassen". Die Güterwagen aus dem "Reich" kam zwischen vier und sieben Uhr morgens nach Maly Trostinec, damit die Bevölkerung von dem Massenmord wenig mitbekommt.

Zwei Drittel der Deportierten aus Wien waren über 50-jährige Frauen. Die Menschen, die in Wien in das Abteil dritter Klasse stiegen, glaubten, sie würden "ausgesiedelt" werden. In Wolkowitz an der damaligen Grenze zur Sowjetunion wurden sie "umgeladen". Gebrechliche Personen "blieben unter den Knüppelschlägen auf dem Bahnsteig liegen. In dieser Nacht haben viele den Verstand verloren", heißt es im Bericht einer im Mai 1942 nach Minsk deportierten Person, der im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) aufliegt.

Auf dem Bahnhof in Maly Trostinec begrüßte ein Sicherheitspolizist die Deportierten und teilte mit, sie würden hier "angesiedelt" werden. Von den Transporten mit etwa 1000 Personen wurden zwischen 20 und 80 Personen für den Arbeitseinsatz im Lager, einer ehemaligen Kolchose namens Karl Marx, ausgesucht. Die anderen wurden aufgefordert, in die Lastwagen einzusteigen. Den Leuten wurde das Gepäck abgenommen, für Habseligkeiten und Dokumente wurden Quittungen ausgestellt. Bis kurz vor ihrem Tod blieben die Menschen in dem Glauben, ein neues Leben beginnen zu können.

Im Frühjahr 1942, als der Boden auftaute, hatten russische Kriegsgefangene in dem Kiefernwald Blagowtschina, drei Kilometer vom Arbeitslager entfernt, bereits Gruben ausheben müssen. Die Deportierten, die vom Bahnhof mit dem Lkw hierhergebracht wurden, mussten sich ausziehen und vor den Gruben hinknien. Sie wurden per Genickschuss getötet und fielen in die Gruben. Manchmal lief während der Massentötung ein Grammofon. Unterscharführer Arlt rapportiert 1942 nach Berlin: "Die Arbeit der restlichen Männer hier in Minsk bleibt nach wie vor dieselbe. Die Judentransporte trafen in regelmäßigen Abständen in Minsk ein. So beschäftigten wir uns am 18. und 19. 6. 42 wieder mit dem Ausheben von Gruben im Siedlungsgelände. Am 26. 6. traf der erwartete Judentransport aus dem Reich ein. Am 2. 7. wurden bereits wieder die Vorkehrungen zum Empfang eines Judentransportes, Aushebung der Gruben, getroffen. Am 17. 7. traf ein Transport mit Juden ein und wurde zum Gut gebracht. Am 21., 22. und 23. 7. werden neue Gruben ausgehoben. Am 24. 7. trifft bereits wieder ein Transport mit 1000 Juden aus dem Reich hier ein. Vom 25. 7. bis 27. 7. werden neue Gruben ausgehoben. Am 28. 7. Großaktion im Minsker russischen Ghetto. 6000 Juden werden zur Grube gebracht."

Einen Monat später, am 31. August werden Julius und Regina aus Wien deportiert und kommen drei Tage später in Maly Trostinec an. Am 4. September wurden sie in Blagowtschina ermordet. Der letzte Zug aus Wien traf am 9. Oktober 1942 in Maly Trostinec ein. Einer der Mörder, der oft an den Gruben stand, SS-Obersturmführer und Kriminalkommissar Georg Heuser, dem die Referate "Bekämpfung von Sabotage, Spionage sowie Erkundung der Partisanenbewegung" und "Juden- und Polenangelegenheiten" unterstanden, erinnerte sich daran, "wie ein Automat" geschossen zu haben. Im Jahr 1963 wurde ihm in Deutschland der Prozess gemacht, nachdem er nach dem Krieg eine glänzende Karriere bei der Polizei aufgebaut hatte.

Weißrussland war zu einem Land geworden, in dem das Morden längst Alltag war. Wie an keinem anderen Ort war der Holocaust in dieser Region Teil der Vernichtung der gesamten Zivilbevölkerung. Zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Weißrussen und Weißrussinnen wurden während der Besatzung ermordet, hunderte Dörfer wurden niedergebrannt. Am 22. Oktober 1943 nach zweieinhalb Jahren Terror und Vernichtung wurde das Ghetto aufgelassen. Doch die Nazis, die die Rote Armee heranrücken sahen, wollten die Spuren der Vernichtung vertuschen. Ende 1943 wurden unter dem Namen "Sonderaktion 1005" die Massengräber in Blagowtschina geöffnet und die Leichen verbrannt. SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte die "Abäscherung" der Ostfront angeordnet. Niemand sollte nachvollziehen können, wie viele Menschen ermordet worden waren. Blagowtschina wurde abgesperrt. Der Gestank war wochenlang kilometerweit zu riechen.

Am 3. Juli 1944 wurde Minsk von der Roten Armee befreit. Die Stadt lag in Schutt und Asche, nur noch 50.000 Menschen lebten hier. Im Raum Maly Trostinec wurden laut weißrussischen Angaben 206.500 Menschen ermordet. Von den Juden und Jüdinnen, die nach Minsk deportiert worden waren, haben 50 überlebt. "Wir haben lange auf einen Gedenkstein aus Wien gewartet", sagt Kuzma Kozak, der Leiter der Gedenkwerkstätte in Minsk, "weil viele Juden, die hier ermordet wurden, aus Wien stammten."

Anfang der 1990er-Jahre setzten mehrere deutsche Städte erstmals einen Gedenkstein im ehemaligen Ghetto in Minsk. Im Vorjahr wurde endlich ein Stein aus Österreich errichtet. Am Ort der Vernichtung fehlt aber immer noch jegliches Mahnmal. Wer tiefer in den Wald Blagowtschina hineingeht, kann den abgesenkten Boden, wo die Gruben waren, gut erkennen. An einigen Bäumen hängen Schleifen und Schilder mit den Namen von Ermordeten. Sie wirken notdürftig angesichts der Dimension der Vernichtung.

Im Bewusstsein der Österreicher ist Maly Trostinec als der Todesort für österreichische Juden und Jüdinnen kaum verankert. Das ehemalige Lager ist heute eine Wiese am Rande der Stadt. Man fand Kämme, Puppen, Türschilder und Fotos von Menschen, die ein Zeichen hinterlassen wollten, dass sie hier ermordet werden sollten. Am ehemaligen Friedhof des Ghettos liegen ein paar Grabsteine mit hebräischen Schriftzügen im Gras. Der Friedhof ist heute ein Park. Rabbi Grigorij Abramowitsch, der zu einer Gedenkfeier zu den Gedenksteinen gekommen ist, sagt: "Die Zeit hat Macht über den Menschen, aber auch der Mensch hat Macht über die Zeit, weil er eine Erinnerung hat." (Adelheid Wölfl/DER STANDARD, Printausgabe, 26./27. 11. 2011)