Ägypten wählt sein erstes demokratisches Parlament seit Jahrzehnten. Gleichzeitig wird im Lande gegen den herrschenden Militärrat protestiert, der genau diese Wahlen angeordnet hat. Wie passt das zusammen? Statt Begeisterung über einen demokratischen Neuanfang herrscht Ende November 2011 Ernüchterung am Nil. Dabei fing alles so vielversprechend an. Nach Jahrzehnten der Gängelung rappelten sich die Ägypter im Januar auf, um für Freiheit und Demokratie zu kämpfen und ihren greisen Diktator aus dem Amt zu jagen. Nicht muffige Gottesstaatler standen an der Spitze des Protests, sondern ganz normale Bürger. Am 11. Februar war die ägyptische Revolution da. Mubarak wurde zurückgetreten, ein Militärrat übernahm die Macht, Wahlen und eine neue Verfassung wurden angekündigt. Seither wurde in Ägypten weniges besser, einiges schlechter und das meiste blieb, wie es war. Eine freiere aber nicht unbedingt bessere Presse entstand. Ein Referendum über Verfassungszusätze brachte für Liberale und Säkulare eine Enttäuschung. Unter den zahllosen neuen Parteien sammelte sich viel Dubioses und Altbekanntes. Der Geheimdienst drangsalierte unter neuem Namen weiter. In den Gefängnissen wurde wieder gefoltert. Christen fürchten mehr denn je um ihre Zukunft. Die Wirtschaft brach ein.
Militärstaat mit ziviler Fassade
Während man in Europa die schwierige wirtschaftliche und politische Lage des Landes als Kollateralschaden des Demokratisierungsprozesses einordnete und fasziniert über die Muslimbrüder debattierte, wurde vielen Ägyptern allmählich klar: Das Land hatte allenfalls eine „gefühlte Revolution" erlebt. Von einem Regime- oder Systemwechsel war es weit entfernt. Die seit über fünfzig Jahren herrschenden Generäle hatten lediglich das Führungspersonal ausgetauscht und einen Präsidenten, der dreißig Jahre im Amt war, durch einen Verteidigungsminister ersetzt, der zwanzig Jahre im Amt war. Ansonsten blieb Ägypten ein Militärstaat mit ziviler Fassade. Fast jeder Behördenchef, Bahnhofsvorsteher oder Museumsdirektor ist ein General. Zwischen 15 und 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen nach Schätzungen durch Unternehmen erwirtschaftet werden, die dem Militär gehören. Straßen, Baufirmen, Hotels, Tankstellen, Lebensmittelfirmen und ganze Landstriche gehören der Armee. Deren Budget und Geschäftsgebaren sind der Kontrolle durch Regierung und Parlament entzogen. Niemand weiß, wer, wo und wie viel von diesem System profitiert. Fest steht nur, es sind Millionen.
Endlich Revolution?
Es ist deshalb kein Zufall, dass sich die Demokratiebewegung vor den Parlamentswahlen wieder auf dem Tahrir-Platz versammelt und zur zweiten Revolution aufgerufen hat - ohne die Muslimbrüder und die schweigende Mehrheit. Die Wahlen werden nach Meinung der meisten Beobachter die religiösen Parteien gewinnen. Viele rechnen dann mit einem Deal zwischen Islamisten und Generälen: Privilegien für das Militär gegen politische und gesellschaftliche Islamisierung. Das hatte es im Ansatz früher schon gegeben. Bei der von den Demonstranten geforderten Machtabgabe der Militärs geht es deshalb um viel mehr als um das Management des Übergangs. Es geht um die Entscheidung zwischen militärischer oder ziviler und zwischen religiöser oder säkularer Ordnung. Es geht aber auch um Chancengerechtigkeit und um die Verteilung der Ressourcen des Landes. Sollte es tatsächlich gelingen, vor diesem Hintergrund eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu etablieren, wäre das endlich eine Revolution in Ägypten. (Andreas Jacobs, derStandard.at, 28.11.2011)