Gema Martín Muñoz beobachtet seit Jahrzehnten die Entwicklung der arabischen Welt.

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Reiner Wandler sprach mit Gema Martín Muñoz, der Direktorin des spanisch-arabischen Kulturzentrums Casa Arabé in Madrid über ihr Spezialgebiet, die Entwicklung in der arabischen Welt.

derStandard.at: König Mohamed VI. bestieg vor mehr als zehn Jahren den Thron. Er trat mit vielen Reformversprechen an. Welche Bilanz ziehen Sie?

Muñoz: Mohamed VI. steht für eine neue Epoche in der Geschichte Marokkos. Das Land hat sich unter ihm sehr deutlich weiterentwickelt. Bei der Einschätzung der Reformen, die er in Angriff genommen hat, stellt sich natürlich wie so oft die Frage, ob wir eine halb leere oder eine halb volle Flasche sehen wollen.

derStandard.at: Fangen wir mit der halb vollen Flasche an.

Muñoz: Besonders hervorzuheben ist die Reform des Familienrechtes und damit des Stellenwertes der Frau in der marokkanischen Gesellschaft. Die Frauen haben heute mehr Rechte denn je. Marokko und Tunesien sind die fortschrittlichsten Länder in der arabischen Welt, was den Status der Frau angeht. Die Marokkanerinnen können sich endlich scheiden lassen. Sie haben mehr gesetzlichen Schutz was das Sorgerecht der Kinder nach einer Trennung angeht. Und die Frau kann endlich über sich selbst bestimmen. Vor der Reform brauchte auch eine erwachsene Frau ständig einen rechtlichen Vormund. Das war entweder der Vater oder der Bruder und nach der Heirat der Ehemann. Heute sind die Frauen endlich voll geschäftsfähig in allen Aspekten des Lebens. Es gibt immer noch einige ungelöste Punkte hinsichtlich der Gleichstellung von Mann und Frau, aber die Reform stellt einen gewaltigen Schritt nach vorn dar.

Auch in vielen anderen Aspekten ist Marokko wesentlich fortschrittlicher als die anderen arabischen Länder. Marokko hat eine pluralistische Presse- und Politiklandschaft. Sicher besteht auch hier weiterer Reformbedarf. So gibt es noch immer Tabuthemen, über die die Presse nicht ungestraft berichten kann.

derStandard.at: Damit wären wir bei der halb leeren Flasche angelangt.

Muñoz: Genau. Kurz zusammengefasst würde ich sagen, Marokko ist das arabische Land, in dem der Fortschritt was politische Rechte und Freiheiten angeht in den letzten Jahren mit am deutlichsten ist, auch wenn vor dem Land noch eine langer Weg liegt. Es ist wünschenswert, dass Marokko diesen Weg weiter beschreitet, und dass die Freiheiten ausgebaut und die Reformen gefestigt werden.

derStandard.at: Hat sich die soziale Situation der Marokkaner ebenfalls geändert?

Muñoz: Marokko hat sich auch sozio-ökonomisch weiterentwickelt. Hier hat sich eine starke Mittelschicht herausgebildet. Außerdem hat Marokko in den letzten Jahren die Infrastrukturen, wie Straßen, Energieversorgung usw. stark modernisiert. Natürlich gibt es wie in allen Entwicklungsländern weiterhin ein großes soziales Gefälle innerhalb der Städte oder zwischen Stadt und Land. Doch der Fortschritt ist deutlich spürbar.

Nehmen wir zum Beispiel das Bildungswesen. Nach der Unabhängigkeit hat Marokko sehr wenig für die Bildung getan. Die Mehrheit der Marokkaner waren unter dem alten König Hassan II. Analphabeten. Hassan II. ließ das Volk in der Unwissenheit. Nicht so sein Sohn Mohamed VI.: Er unternimmt sehr große Anstrengungen, um die Analphabetenrate zu senken und den Zugang zur Bildung zu erleichtern. Die Zahl derer, die Grundschulen, weiterführende Schulen bis hin zur Hochschule besuchen steigt ständig.

derStandard.at: Das ist sicher mit ein Grund dafür, dass die Mittelschicht wächst. Sie ist heute wesentlich stärker als noch vor zehn oder 20 Jahren. Wird dies dazu führen, dass diese Menschen auch mehr politische Beteiligung einfordern, wie dies zum Beispiel in Spanien nach dem Tod von Diktator Franco der Fall war?

Muñoz: Dieser Prozess ist bereits in vollem Gange. Marokko ist ein Land, das sich durch eine große Vielfalt an Eliten auszeichnet. Die Zivilgesellschaft ist sehr entwickelt. Sie nimmt am politischen Leben teil und stellt ihre Forderungen. Die marokkanische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht sehr viel dynamischer als die der Nachbarländern. Das ist sehr positiv für das Land. Die jungen Generationen sind dabei besonders wichtig. Sie stellen dank einer sehr hohen Geburtenrate einen großen Teil der Bevölkerung. Die jungen Menschen haben immer mehr Zugang zu den Universitäten. All das führt zu einer Dynamik des Wandels.

derStandard.at: Genau hier liegt aber auch eines der sozialen Probleme. Marokko hat eine sehr breite Schicht von jungen Hochschulabgängern, die arbeitslos sind.

Muñoz: Das ist eines der wichtigen Herrausforderungen für die Zukunft. Marokko muss diesen jungen Menschen eine Chance geben. Sie sind wichtig für die weitere Entwicklung des Landes. Der Generationenwandel muss auf allen Ebenen beschleunigt werden.

derStandard.at: Die Islamisten rekrutieren viele ihrer Anhänger genau unter jungen hochqualifzierten und zugleich tief frustrierten Menschen.

Muñoz: Das stimmt. Der Islamismus stützt sich sehr stark auf die jungen Generationen. Wenn wir über die Islamisten in Marokko reden, müssen wir anerkennen, dass hier Mohamed VI. sehr intelligent vorgeht. Er hat gesehen, dass diese neue politische Kraft eingebunden werden muss, anstatt sie auszugrenzen, wie dies in anderen Ländern geschieht. Das ist positiv zu bewerten. Denn der Islamismus existiert und lässt sich nicht weg reden. Die Integration des Islamismus in das legale politische System macht den Islamismus moderater und pragmatischer. Die Isolierung führt zwangsläufig zu einer Radikalisierung. (Reiner Wandler, derStandard.at, 28.11.2011)