
In puncto Tiefspeicher hält Johanna Rachinger am Standort Heldenplatz fest, weil es ein "idealer Ort für das Gedächtnis der Republik" wäre.
STANDARD: Zehn Jahre an der Spitze der Österreichischen Nationalbibliothek. Wie fällt der Rückblick aus? Was waren wichtige Projekte?
Rachinger: Das wichtigste Projekt war für mich die Restitution, weil das doch wie ein Schatten über dem Haus hing. Wir haben einen 1500-Seiten-Bericht vorgelegt. Mehr als 50.000 Objekte waren aufgelistet, die meisten haben wir bereits restituiert. Allein im letzten Jahr haben wir mehr als 8000 Bücher an den Nationalfonds zurückgegeben. Wir sind übrigens die erste Institution, die an den Nationalfonds restituiert hat. Ich sehe diese Rückgaben als moralische Verpflichtung: Wer, wenn nicht meine Generation, muss das erledigen. Wir hatten da auch Vorbildfunktion, etwa deutschen Bibliotheken gegenüber.
STANDARD: Wie weit ist der Digitalisierungsprozess vorangeschritten?
Rachinger: Es war für mich ein ganz besonders wichtiges strategisches Ziel, die Österreichische Nationalbibliothek an das Internetzeitalter heranzuführen. Wir haben mit dem Bildarchiv Austria das größte österreichische Portal für Fotodokumentation aufgebaut. Nächstes Jahr werden wir den gesamten Plakatbestand ins Netz stellen - mit 100.000 Plakaten haben wir auch in diesem Bereich die umfassendste Sammlung Österreichs. Mit ANNO - Austrian Newspapers online - ist auch der größte digitale historische Zeitungslesesaal über das Internet zugänglich. Knapp sieben Millionen Zeitungsseiten sind schon im Netz, jedes Jahr soll eine Million dazukommen. Ganz wichtig für uns ist die Public Private Partnership mit Google, bei der wir in den nächsten Jahren unseren gesamten urheberrechtsfreien Buchbestand digitalisieren werden. Die ersten 50.000 Bände sind bereits digitalisiert.
STANDARD: Und was ist in den zehn Jahren nicht so gelungen?
Rachinger: Das einzige Ziel, das wir uns vorgenommen hatten und noch nicht erreicht haben, ist ein dringend benötigter Bücherspeicher unter dem Heldenplatz. Wir sind ja gesetzlich zum Sammeln verpflichtet. Das heißt, wir bekommen von jedem in Österreich erschienenen Buch, von jeder österreichischen Zeitung ein Belegexemplar. Im bestehenden Speicher sind unsere Kapazitäten in zwei, drei Jahren erschöpft.
STANDARD: Warum Heldenplatz?
Rachinger: Weil wir einerseits die direkte Anbindung an die Lesesäle brauchen, um die Bestände möglichst rasch verfügbar zu haben. Und auch, weil dort jener Mann gestanden ist, der Bücher einst verbrennen ließ. Gerade dieser Platz wäre also ein idealer Ort für das Gedächtnis der Republik.
STANDARD: Scheitert es am Geld?
Rachinger: Wir waren auf gutem Weg, dann kam die Wirtschaftskrise. Im Moment sind öffentliche Mittel nicht aufzutreiben. Wir arbeiten auch hier an einer Public Private Partnership.
STANDARD: Ist im Online-Zeitalter die Bibliothek nicht bald obsolet?
Rachinger: Unsere Vision ist, unser gesamtes Leistungsangebot auch als virtuelle Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Aber wir sind überzeugt, dass es die Bibliothek immer auch als physischen Ort geben wird. Wir haben in den Lesesälen steigende Besucherzahlen, obwohl wir immer mehr Inhalte auch über das Internet anbieten.
STANDARD: Wie erklären Sie das?
Rachinger: Einerseits mit unserem sehr guten Service. Andererseits suchen Menschen - neben Wohnung und Arbeitsplatz - so etwas wie dritte Orte. Das kann ein Restaurant sein, ein öffentlicher Platz. Oder eben eine Bibliothek. Jemand hat einmal gesagt, Bibliotheken haben auch eine Dorfbrunnenfunktion. In unserem Kommunikationszeitalter mit Internet und Social Media besteht die Sehnsucht nach Orten, an denen man sich auch real begegnet. Unsere Bibliothek ist ein Ort des Lernens, Forschens und der Beratung, aber auch Treffpunkt großteils junger Menschen. Zwei Drittel unserer Kunden sind junge Studierende.
STANDARD: Was sind Ihre Pläne für die dritte Amtsperiode?
Rachinger: Der Einstieg in Web 2.0, die Volltextdurchsuchbarkeit unserer Bestände. Und wir bauen gerade einen neuen Forschungslesesaal. Mir ist wichtig, dass wir eine dienstleistungs- und serviceorientierte Einrichtung sind. Wir bekommen auch sehr viele positive Rückmeldungen - etwa zur Kommunikationslounge mit Wittmann-Möbeln. Es ist mir wichtig, dass die jungen Menschen eine ästhetisch anspruchsvolle Lese- und Lernumgebung vorfinden.
STANDARD: Wie schauen die Besucherzahlen aus?
Rachinger: 2010 haben wir die 500.000-Besucher-Marke überschritten. Im musealen Bereich, Globen-, Papyrus- und Esperantomuseum, haben wir mehr als 220.000 Besucher, allein heuer verzeichnen wir bis Ende Oktober eine Steigerung von 8,9 Prozent. Wir haben 75 Ausstellungen in diesen zehn Jahren gemacht. Und in den Lesesälen haben wir rund 280.000 Besucherinnen und Besucher jährlich.
STANDARD: Kommen Sie selber noch zum Lesen?
Rachinger: Ja, wenn auch seltener als früher. Ich glaube, von Doderer stammt der Satz: Wer immer sagt, er habe keine Zeit, der verblödet irgendwann. (Andrea Schurian, DER STANDARD - Printausgabe, 29. November 2011)